Brüssel/London. Ab Samstag ist Großbritannien kein EU-Mitglied mehr. Der letzte Tag vor dem Brexit brachte starke Emotionen auf die britischen Straßen.

So richtig kalt ließ der Tag des Brexit nur die wenigsten in Großbritannien. Der letzte Tag in der EU nach beinahe 50 Jahren Mitgliedschaft, er brachte starke Emotionen auf die britischen Straßen. Und nicht nur in London wurde einmal mehr die Spaltung deutlich, für die der EU-Austritt auch mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum noch bei den britischen Bürgern sorgt.

Im Regierungsviertel der britischen Hauptstadt standen sich Demonstranten beider Seiten des Brexit-Streits unversöhnlich gegenüber. Gegner des EU-Austritts, die in einem weitgehend stummen Protestzug vom Regierungssitz Downing Street in Richtung Parlament zogen, wurden von Brexit-Befürwortern teils mit wüsten Beschimpfungen und Sprechchören empfangen. „Verräter“ und „Verlierer“ gehörten zu den harmloseren Rufen.

Die „Brexiteers“, sie fühlen sich als Gewinner. Ab Samstag ist Großbritannien kein Mitglied der Europäischen Union mehr. Doch ihr „Sieg“ hat einen hohen Preis: Trauer und Wut, nicht nur bei den vielen Briten, die gegen den Brexit sind, sondern bei Menschen überall in Europa. Auch in Brüssel, wo am Freitagabend die britischen Flaggen vor den EU-Gebäuden abgehängt wurden, und auch in Berlin schwang zum Abschied viel Wehmut mit.

Ein Brexit-Befürworter feiert den EU-Austritt am Freitag vor dem britischen Parlament in London.
Ein Brexit-Befürworter feiert den EU-Austritt am Freitag vor dem britischen Parlament in London. © AFP | GLYN KIRK

Brexit ist für Merkel „ein tiefer Einschnitt“

Politiker auf beiden Seiten des Ärmelkanals betonten aber auch Zukunftschancen und die eigene Stärke. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron nannte den EU-Austritt ein „historisches Alarmzeichen“. „Das ist ein trauriger Tag“, sagte Macron am Freitagabend in einer kurzfristig angesetzten Ansprache an seine Mitbürger. Er forderte weitere Reformen für die EU – es sei bisher nicht gelungen, Europa ausreichend zu ändern. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte zum Austritt Großbritanniens den Wunsch nach einer engen Beziehung zu den Briten. „Das ist ein tiefer Einschnitt für uns alle“, sagte sie in ihrem Podcast am Freitag.

„Wir gehen in diese Verhandlungen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem gemeinsamen Auftritt mit EU-Ratschef Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli.

Mit gutem Willen werde man eine „dauerhafte, positive und sinnvolle Partnerschaft“ aufbauen können, schrieben die drei Präsidenten n einem Gastbeitrag, der in vielen europäischen Zeitungen erschien. Aber: „Ohne gleiche Wettbewerbsbedingungen bei Umwelt, Arbeit, Steuern und staatlichen Beihilfen kann es keinen qualitativ uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt geben.“

Brexit: Boris Johnson will Verhandlungsziele am Montag nennen

Ein hartes Ringen ist absehbar. Wie der britische Premier Boris Johnson durchsickern ließ, will er sein Land von der Anbindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn dies Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, will er nach einem Bericht des „Telegraph“ nächste Woche als Ziel ausgeben. Ein Regierungssprecher bestätigte auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur, dass Johnson seine Verhandlungsziele bereits am Montag in einer Rede darlegen will.

Johnson will mit der EU ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild Kanadas aushandeln. Das sagte er einem Regierungssprecher zufolge bei einer Sondersitzung des Kabinetts im nordenglischen Sunderland am Freitag, wenige Stunden vor dem Austritt des Landes um Mitternacht. Auch mit anderen Ländern rund um die Welt sollen demnach umgehend Gespräche über Freihandelsabkommen aufgenommen werden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, dass die anstehenden Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen mit Großbritannien noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen. „Wir werden unsere Unterschrift darunter setzen, wenn alles verhandelt ist und wir ein ausbalanciertes Paket haben“, sagte von der Leyen laut Vorabmeldung vom Freitagabend im Interview mit den ARD-„Tagesthemen“.

Die drei EU-Präsidenten zeigten sich bei ihrem gemeinsamen Auftritt auch selbstkritisch – immerhin ist Großbritannien der erste EU-Staat der Geschichte, der die Staatengemeinschaft verlässt. Als Lehre aus dem Brexit werde sich die EU mehr um die Unterstützung durch ihre Bürger bemühen und den Wert des Projekts im Alltag sichtbarer machen, sagte Michel.

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London am Freitag: Diese Demonstrantin entschuldigt sich mit ihrem Plakat bei der EU für den Brexit.
London am Freitag: Diese Demonstrantin entschuldigt sich mit ihrem Plakat bei der EU für den Brexit. © Getty Images | Jeff J Mitchell

Johnson betonte seinerseits die Chancen des Neuanfangs für sein Land. „Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels“, erklärte der Premier in einer Videobotschaft. Seine Aufgabe sei es nun, das Land zu einen und voranzubringen.

Die britische Regierung hatte nur Feiern ohne viel Pomp zum Zeitpunkt der historischen Zäsur um 23 Uhr Ortszeit angesetzt – ohne Geläut von Big Ben, nur mit britischen Flaggen am Parliament Square und einem projizierten Countdown am Regierungssitz. Bei einem Empfang in der Downing Street sollten englischer Schaumwein und britische Spezialitäten gereicht werden.

Kurz vor dem Brexit- Was Briten sagen

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    Ausgelassener feiern wollte dagegen der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage. Die Initiative „Leave means Leave“ organisierte ein Fest vor dem Parlament, mit vielen Union-Jack-Fahnen und der Nationalhymne „God save the Queen“. Ein Feuerwerk wurde Farage allerdings untersagt.

    Die Party startete mit unschönen Szenen: Erwachsene animierten Kinder am Freitagabend, auf EU-Flaggen auf dem matschigen Boden zu springen, und klatschten Beifall. Etliche Teilnehmer waren betrunken und stürzten, obwohl auf dem Parliament Square Alkohol verboten ist. Die EU-Abgeordneten der Brexit-Partei feierten schon am Morgen ihren „Brexodus“ aus Brüssel. „Heute ist der Tag, an dem Großbritannien nach mehr als 40 Jahren wieder frei wird“, sagte die Abgeordnete Ann Widdecombe.

    Brexit-Gegner in Dover hielten dagegen. „We still love EU“ („Wir lieben die EU noch immer“), schrieben sie auf einem riesigen Banner in der britischen Hafenstadt. Irlands Premierminister Leo Varadkar betonte in der „Welt“ (Freitag): „Was auch immer geschieht, ich hoffe, dass die Tür immer offen steht, sollte das Vereinigte Königreich jemals entscheiden, zurückkehren zu wollen.“

    Auch in Nordirland demonstrierten an mehreren Orten Brexit-Gegner. So forderten vor dem Sitz des nordirischen Regionalparlaments in Belfast Anhänger der Partei Sinn Fein ein Referendum zur irischen Wiedervereinigung. Am Abend wollten hingegen Brexit-Befürworter vor dem Regionalparlament demonstrieren. Der britische Landesteil grenzt an den EU-Staat Irland und ist besonders vom EU-Austritt betroffen. Die Nordiren hatten mehrheitlich gegen den EU-Austritt gestimmt.

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    (dpa/br)