Brüssel. Entfernt sich die Türkei von westlichen Werten, hat das womöglich Folgen für die Beihilfe. Ein EU-Beitritt würde so unwahrscheinlich.

Vor wenigen Monaten ist Günther Oettinger vom EU-Kommissar für Digitale Gesellschaft und Wirtschaft zum Haushaltskommissar aufgestiegen – und ist jetzt mittendrin auf zentralen Baustellen der EU: Ob Hilfsgelder für die Türkei, das Verhältnis zu Polen oder die Kosten des Brexit, der 63-jährige CDU-Politiker scheut auch Konflikte nicht. Sein Blick auf die Zukunft der EU ist dennoch überraschend optimistisch.

Herr Oettinger, mehrere EU-Staaten verbieten Wahlkampfauftritte von türkischen Ministern. Muss nicht auch die Bundesregierung klare Haltung zeigen und Auftritte stoppen – erst recht nach den Nazi-Vorwürfen?

Günther Oettinger: Was einige türkische Regierungsmitglieder äußern, ist in Stil und Inhalt nicht akzeptabel. Der Nazi-Vergleich entbehrt jeder Grundlage. Generell ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut, die Versammlungsfreiheit auch. Ich rate daher, unhaltbare Behauptungen zurückzuweisen und im Einzelfall abzuwägen, ob ein Verbot erforderlich ist – aber ansonsten ist Gelassenheit gefragt.

Haben Sie eine Erklärung für die Ausfälle?

Oettinger: Präsident Erdogan ist sichtbar nervös: Es ist unklar, ob er das Verfassungsreferendum gewinnt. Wir sollten auf diese verbalen Entgleisungen nicht so reagieren, wie er hofft.

Wäre eine gemeinsame EU-Linie im Umgang mit solchen Auftritten nicht sinnvoll?

Oettinger: Eine Europäisierung ist in dem Fall schwierig: In Deutschland sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Verfassung verankert. Einige EU-Mitglieder geraten beim Thema Meinungsfreiheit eher auf die schiefe Ebene.

Warum bekommt die Türkei von der EU Hunderte Millionen Euro Vor-Beitrittshilfen – obwohl auf beiden Seiten kaum noch jemand an den EU-Beitritt glaubt?

Oettinger: Wir geben solche Hilfen an zahlreiche Länder, etwa auch an die Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan. Aber wenn wir dauerhaft feststellen, dass sich die Entwicklung von den Werten Europas entfernt, kann dies Folgen für die Finanzierung haben. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Beitrittsziel, der Verpflichtung, unsere Werte zu übernehmen, und den Finanzhilfen – mit denen wollen wir den Weg nach Europa ebnen, nicht das Gegenteil fördern. Die Beitrittshilfen sind bei den Beratungen über den Haushalt 2018 und auch bei der Vorbereitung zum mehrjährigen Finanzrahmen ein Thema.

Halten Sie den EU-Beitritt der Türkei noch für möglich?

Oettinger: Ein EU-Beitritt der Türkei kommt in diesem Jahrzehnt sicher nicht, im nächsten Jahrzehnt ist er nicht absehbar, und unter einem Präsidenten Erdogan ist er wenig wahrscheinlich. Aber die Türkei war und ist Beitrittskandidat. Diesen Status würde sie sicher gefährden, wenn nicht verlieren, wenn sie zum Beispiel im Strafrecht die Todesstrafe einführen würde. Wir konzentrieren uns bei den Verhandlungen derzeit auf Fragen der Rechtsstaatlichkeit, die sehen wir als gefährdet an. Der Dialog mit der Türkei ist hilfreich und sicher besser, als die Gesprächsfäden abzuschneiden.

Hat uns Erdogan wegen des Flüchtlingsabkommens in der Hand, kann er die Bundesregierung erpressen?

Oettinger: Eine Entwicklung der Flüchtlingszahlen wie im Spätsommer 2015 ist derzeit nicht zu befürchten. An der Einhaltung des Abkommens hat die EU ebenso wie die Türkei ein Interesse, es geht um Leistung und Gegenleistung. Die EU zahlt die zugesagten Mittel von drei Milliarden in vollem Umfang. Damit unterstützen wir die menschenwürdige Unterbringung in den Flüchtlingslagern in der Türkei. Im Übrigen beteiligt sich die Türkei sehr konstruktiv an der gemeinsamen Bekämpfung des islamischen Terrorismus und an der Lösung der Konflikte im Irak und in Syrien.

Am Mittwoch wählen die Niederlande: Wird Geert Wilders der erste rechtspopulistische Regierungschef eines EU-Gründungsstaates?

Oettinger: Nein, ganz sicher nicht. Alle gemäßigten Parteien dort sind bereit, für eine Regierungsbildung zusammenzuarbeiten. Wilders hat keine Mehrheit in Aussicht, und seine Umfragewerte gehen zurück. Der Stil von US-Präsident Trump, seine Twitterei eingeschlossen, schadet den Rechtspopulisten in Europa. Wo Demokraten keine Fehler machen, haben die Populisten in Europa ihren Höhepunkt hinter sich. Das könnte auch bei der AfD der Fall sein, ihre Umfragewerte sind schon gekippt.

Darum ist die Wahl in den Niederlanden auch für uns spannend

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    In Frankreich sieht es anders aus. Könnte die EU eine Präsidentin Marine Le Pen verkraften?

    Oettinger: Von einer Präsidentin Le Pen gehe ich nicht aus. Die Franzosen sind in ihrer klaren Mehrheit sehr europafreundlich. Die demokratischen Parteien dürfen allerdings nicht noch weitere Fehler machen.

    Polen ist auf klarem Konterkurs zu den Rechtsstaats- und Demokratie-Grundsätzen der EU. Ist es Strafe genug, dass die Partner gegen den Willen Warschaus Donald Tusk als Ratspräsident im Amt bestätigt haben?

    Oettinger: Es ist schon ärgerlich, wie die polnische Regierung hier europäische Gremien für innenpolitische Parteien-Spiele zu nutzen versuchte. Aber die anderen EU-Staaten haben mit der Wahl von Tusk ein klares Zeichen gesetzt. Was die Eingriffe in die Meinungs- und Pressefreiheit in Polen betrifft, widerspricht dies den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und den EU-Verträgen.

    Der österreichische Kanzler Kern hat mit Blick auf Polen oder Ungarn vorgeschlagen, EU-Staaten Gelder zu streichen, wenn sie Grundwerte nicht einhalten. Gute Idee?

    Oettinger: Es ist nach dem Haushaltsrecht gar nicht so leicht, ihnen zustehende Gelder zu verweigern. Wenn der EU wegen des Brexit demnächst neun Milliarden Euro netto fehlen, ist die Bereitschaft der anderen Nettozahler, den Einnahmerückgang auszugleichen und außerdem die Kohäsionsfonds etwa für Polen und Ungarn auf hohem Niveau zu halten, nicht selbstverständlich. Dann kommt es auch auf das Binnenklima in der EU an und darauf, welche Signale die betroffenen Regierungen aussenden. Das soll keine Drohung sein. Aber es kommt jetzt darauf an, dass alle EU-Partner klug handeln.

    In der Debatte um die Zukunft der EU ist wieder von einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Rede. Aber taugt das als Zauberformel? Dieses Europa haben wir ja schon ...

    Oettinger: Die unterschiedliche Geschwindigkeit ist sicher nicht die Lösung für alles, aber ein ergänzendes Instrument. So sollte nicht immer der Langsamste im Geleitzug das Tempo bestimmen oder gar im Bremserhäuschen blockieren. Wir sollten auf dem Weg zu mehr Europa etwa bei der Migrations- und Flüchtlingspolitik, bei der Verteidigung oder Terrorbekämpfung weiter gehen, in anderen Bereichen die Zahl der europäischen Initiativen dagegen gering halten. In einigen Feldern werden Mitgliedsstaaten vorangehen, andere werden nicht dabei sein – wie das beim Euro, dem Schengen-Abkommen oder jetzt der europäischen Staatsanwaltschaft schon der Fall ist.

    Wie sieht Europa in 20 Jahren aus?

    Oettinger: In 20 Jahren werden wir nach dem Brexit kein weiteres Mitglied verloren haben und eine Generation von Briten erleben, die in Parlament, Regierung und Öffentlichkeit einen erneuten Beitritt überlegt. Die Staaten des Westbalkans haben die Beitrittsbedingungen erfüllt und sind EU-Mitglieder, der Frieden in dieser Region ist gesichert. Und die Weiterentwicklung der Verträge wird aus der heutigen Kommission eine echte Regierung machen, mit einem starken Parlament und einem starken Rat. So schwierig die Entwicklung in der Türkei ist, so sehr uns internationale Krisen in Atem halten und manche Tweets aus Washington irritieren, sie befördern doch auch eine Erkenntnis: Europa muss erwachsen werden.