Essen. Die Abhängigkeiten von der Türkei – durch den Flüchtlingsdeal und die wirtschaftlichen Verflechtungen – sind geringer als angenommen.

Das deutsch-türkische Verhältnis ist an einem Tiefpunkt angelangt. Das Katz-und-Maus-Spiel um die Wahlkampfauftritte türkischer Minister nimmt bizarre Züge an. Viele Bürger wünschen sich von der Bundesregierung deutlichere Kritik am aktuellen Vorgehen der türkischen Regierung.

Die vergleichsweise diplomatische Tonlage der Bundesregierung wird häufig begründet mit der Abhängigkeit von der Türkei, im Wesentlichen: mit dem Flüchtlingsdeal, den engen wirtschaftlichen Beziehungen und der Bedeutung der Türkei als Südflanke der Nato. Kann Ankara Deutschland und Europa erpressen?

• Der Flüchtlingsdeal

Die ziemlich genau vor einem Jahr in Kraft getretene Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei gilt als das stärkste Druckmittel Erdogans. In der Türkei leben etwa 2,5 Millionen Flüchtlinge vor allem aus dem Bürgerkriegsland Syrien, aber auch aus dem Irak oder Afghanistan. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Türkei ihren Grenzschutz verbessert und Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Griechenland gelangen, zurücknimmt, wenn ihr Asylbegehren abgelehnt wird. Im Gegenzug haben sich die EU-Länder verpflichtet, Flüchtlinge aus der Türkei direkt aufzunehmen.

Zudem hat die EU zugesagt, insgesamt sechs Milliarden Euro für die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen in der Türkei zu zahlen, und sie hat der Türkei Visafreiheit für ihre Bürger in Aussicht gestellt. Die Vereinbarung hat gewirkt. Seit ihrem Inkrafttreten ist die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis gekommen sind, stark zurückgegangen. Vor dem Abkommen kamen in der Spitze im Oktober 2015 bis zu 10.000 Flüchtlinge – am Tag. In den vergangenen elf Monaten waren es etwa 27.000.

Was nicht funktioniert hat, ist die Rückübernahme von Flüchtlingen durch die Türkei. Bislang sind laut EU erst rund 1500 Menschen von Griechenland in die Türkei zurückgekehrt. Das liegt vor allem an den langen Asylverfahren in Griechenland. Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sind mittlerweile überfüllt, die Lebensverhältnisse für die Menschen katastrophal.

Sollte die Türkei den Flüchtlingsdeal aufkündigen, droht allerdings nicht zwangsläufig eine neue Flüchtlingswelle. Davon ist Prof. Daniel Thym überzeugt. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration . „Migrationsbewegungen hängen ja von vielen Faktoren ab“, so Thym.

„Die Balkanroute bleibt so oder so weiterhin dicht. Die Flüchtlinge müssten also damit rechnen, dass sie sehr lange in Griechenland bleiben oder gar nicht durchkommen“, so der Migrationsforscher. Zudem hätten sich die sogenannten Push-und-Pull-Faktoren verändert. „Den Flüchtlingen geht es mittlerweile in der Türkei besser. Ihr Rechtsstatus, ihre Unterbringung und Verpflegung haben sich auch durch die europäische Unterstützung verbessert.“ Zudem sei den Menschen durch die Erfahrungsberichte derjenigen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben, klar geworden, „dass ein Leben in Deutschland nicht ganz so einfach ist, wie es sich viele ausgemalt haben“.

Abhängigkeit: mittel

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    • Die Wirtschaftsbeziehungen

    Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Laut Auswärtigem Amt erreichte das bilaterale Handelsvolumen 2015 mit 36,8 Milliarden Euro einen Rekordwert, wobei die deutschen Exporte mit rund 22,4 Milliarden Euro höher ausfielen als die türkischen mit 14,4 Milliarden Euro. Einer der wichtigsten Wirtschaftszweige für die Türkei ist der Tourismus. Angesichts der instabilen Lage, insbesondere aber der Anschläge wie dem auf den von Ausländern besuchten Club Reina in Istanbul in der Silvesternacht, sind die Zahlen deutscher Touristen eingebrochen.

    Trotz der angespannten deutsch-türkischen Beziehungen und der markigen Angriffe auf Deutschland hat Ankara deswegen kürzlich in Berlin um Hilfe gebeten. Ende Februar traf sich der stellvertretende türkische Ministerpräsident und Finanzminister Mehmet Şimşek in Berlin mit Finanzminister Wolfgang Schäuble, berichtete der „Spiegel“. Bei dem Gespräch soll es vor allem darum gegangen sein, wie der Tourismus in der Türkei angekurbelt werden kann.

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      • Militärische Beziehungen

      Die Türkei ist als Nato-Partner bislang unverzichtbar. Sie sichert die Südflanke des Bündnisses, die an eine Region grenzt, die von Kriegen und Konflikten erschüttert wird. Der Flughafen Incirlik dient als Operationsbasis für Luftangriffe im Irak und in Syrien. Doch gibt es in letzter Zeit klare Signale insbesondere der USA, dass die Türkei nicht alternativlos ist. Ein neuer strategischer Partner in der Region könnten die Kurden werden.

      So soll in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak ein Flugfeld ausgebaut werden, das als Ausweichmöglichkeit zu Incirlik dienen könnte. In Syrien haben die Amerikaner den Türken vor wenigen Tagen die Rote Karte gezeigt: Ankara hatte angekündigt, mit eigenen Truppen und verbündeten syrischen Milizen auf die Stadt Manbidsch vorzurücken. Manbidsch wurde im August 2015 von den „Demokratischen Streitkräften Syriens“ (SDF) aus der Hand der Terrormiliz IS befreit. Die SDF sind ein Militärbündnis säkularer arabischer Milizen und der kurdischen YPG und für die USA der wichtigste Partner im Kampf gegen den IS in Syrien.

      Die YPG gilt der Türkei aber als Terrororganisation, weil sie enge Verbindungen zur türkisch-kurdischen PKK hat; zudem will Ankara die Entstehung eines autonomen Kurdengebietes im Norden Syriens mit aller Macht verhindern. Nach ersten Gefechten im Umland von Manbidsch entsandten die USA Radpanzer mit aufgepflanzten amerikanischen Fahnen in die Stadt und machten deutlich, dass sie weitere Angriffe der Türken und ihrer Verbündeten auf die SDF nicht dulden werden. Ankara gab nach.

      Abhängigkeit: abnehmend