Brüssel. Die EU setzt in der Flüchtlingskrise auf Abschreckung und die Türkei. Dem Deal mit Ankara stehen jedoch auch rechtliche Hürden im Weg.

Die Flüchtlingskrise setzt Europa und Bundeskanzlerin Angela Merkel enorm unter Druck. Erleichterung soll ein Abkommen mit der Türkei bringen, das seit Donnerstagnachmittag bei einem EU-Gipfel in Brüssel diskutiert wird.

Protest kam bereits vor dem Gipfelstart aus Ungarn: Ministerpräsident Viktor Orban will dem geplanten Flüchtlingspakt nur zustimmen, falls Ungarn keine Flüchtlinge aus dem Land aufnehmen muss. „Sollte es mit den Türken eine Vereinbarung geben, dürfen darin nur solche Paragrafen vorkommen, die regeln, dass die Ansiedlung der aus der Türkei Ankommenden (Flüchtlinge in Europa) auf freiwilliger Basis und nicht aufgrund von Zwang geschieht“, sagte der nationalkonservative Orban der staatlichen ungarischen Nachrichtenagentur MTI. Eine Einigung mit der Türkei sei zur Lösung der Flüchtlingskrise gar nicht nötig, weil sich die Sperrung der Balkanroute als effizient erwiesen habe, sagte zuvor Orbans Kanzleiminister Janos Lazar in Budapest. „Der Balkan hat die EU geschützt“, fügte Lazar hinzu..

Die geplante Vereinbarung ist auch auf lautstarke Kritik bei Asylorganisationen und Menschenrechtlern gestoßen. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk meldete Zweifel an. Doch die EU-Kommission ist zuversichtlich: Die rechtlichen Bedenken ließen sich ausräumen. Ein Überblick.

Was sieht die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei vor?

Für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln zurück in die Türkei geschickt wird, nimmt die EU einen anderen Syrer aus der Türkei auf. Dies soll Migranten davon abhalten, mit Hilfe von Schleppern nach Griechenland zu kommen – denn damit würden sie ihre Chancen auf eine Zukunft in Europa aufs Spiel setzen. Wer unerlaubt auf die griechischen Inseln kommt, soll zunächst nicht für eine Aufnahme in der EU in Frage kommen. Migranten aus anderen Staaten würden ebenfalls in die Türkei zurückgeschickt, egal ob es um Bürgerkriegsflüchtlinge geht oder um Menschen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen haben.

Wie soll das gehen – es gibt doch ein Recht auf Asyl?

Das Schlüsselwort heißt „sicherer Drittstaat“. Damit Griechenland Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken kann, muss es das Land zunächst als solchen anerkennen. Das hat Athen in die Wege geleitet. Die EU als Ganzes müsste das nicht ausdrücklich unterschreiben.

Was würde das konkret bedeuten?

Nach europäischem Recht gibt es zwei Möglichkeiten für ein EU-Land, diese Einstufung zu machen – mit unterschiedlichen Folgen für das Asylverfahren. Dabei gilt: Im ersten Fall sind die Anforderungen an das Drittland hoch und die Ausweisung ist relativ leicht. Im zweiten Fall ist die Anerkennung als sicherer Drittstaat einfacher, dafür hat der Asylbewerber mehr Rechte.

Welches Verfahren hat die EU in diesem Fall im Blick?

Sie will den zweiten Fall anwenden und damit die Latte für die Türkei weniger hoch legen. Für die Anerkennung müsste das Land die Genfer Flüchtlingskonvention nicht in vollem Umfang unterzeichnet haben, sondern Flüchtlingen lediglich Schutz „gemäß“ der Konvention gewähren. Ob das so ist, muss Griechenland klären. Es sei nicht an EU-Juristen, das zu entscheiden, meint ein EU-Mitarbeiter. Die Türkei hat die Lebensumstände für Syrer zuletzt verbessert, zum Beispiel hat sie Möglichkeiten für legale Arbeit geschaffen.

Was bedeutet das für Asylbewerber?

Sie haben Anspruch darauf, dass Griechenland ihren Einzelfall prüft. Eine Ausweisung könnten sie verhindern, wenn die Türkei für sie doch nicht sicher ist. Sie müssen die Möglichkeit haben, ihr Anliegen auch vor Gericht zu bringen. Syrische Kurden könnten zum Beispiel auf den Konflikt zwischen der Regierung und der kurdischen Minderheit in der Türkei verweisen. „Es kann keine Pauschal-Rückführungen geben“, unterstreicht der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans.

Ginge das alles noch einfacher?

Ja. Aber dafür müsste die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention ohne Einschränkungen unterzeichnet haben. Doch das Land sieht umfassenden Schutz inklusive Asyl nur für Flüchtlinge aus Europa vor. Hintergrund für diese Regelung war die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Allen übrigen Schutzsuchenden erlaubt das Land nur einen „vorübergehenden“ Aufenthalt, bis sie in ein anderes Land umgesiedelt werden können.

Wie schnell könnten Migranten wieder zurückgeschickt werden?

Das wird von den Kapazitäten der griechischen Behörden und Gerichte abhängen und davon, wie viel Unterstützung sie von der EU bekommen. Ein EU-Diplomat berichtet, in seinem Heimatland sei ein Asylverfahren binnen 48 Stunden abgeschlossen.

Könnte die Abmachung am Ende vor Gericht landen?

Ja. Einzelne Flüchtlinge könnten vor Gericht die Frage aufwerfen, ob die Türkei überhaupt die Voraussetzungen für die Anerkennung als sicherer Drittstaat erfüllt. Im Zweifel würde ein griechisches Gericht die Frage dann dem EU-Gerichtshof vorlegen. Menschenrechtsorganisationen könnten solche Klagen unterstützen.

Doch für die EU ist das vielleicht gar nicht so wichtig. Ein EU-Diplomat weist auf die Dauer eines solchen Rechtsstreits hin. Bis ein Urteil fallen würde, hätte die Regelung längst ihre abschreckende Wirkung entfaltet und Flüchtlinge würden kaum noch versuchen, die griechischen Inseln zu erreichen, so die Hoffnung.

Kommen Flüchtlinge dann überhaupt noch legal nach Europa?

Ja. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Syrer, Iraker oder Afghanen könnten aus der Türkei oder anderen Staaten wie dem Libanon in die EU umgesiedelt werden. Dafür gibt es Programme einiger EU-Staaten. Staaten wie Italien fürchten auch eine Verlagerung der Fluchtrouten – denn bei der Abmachung mit der Türkei geht es nur um die griechischen Inseln. Die Migranten könnten versuchen, über die Landgrenze aus der Türkei nach Bulgarien zu kommen. Auch die Überfahrt aus Libyen oder anderen nordafrikanischen Ländern wäre eine Möglichkeit. (dpa)