London. Boris Johnson wurde von Gegnern und Befürwortern des Brexit gleichsam umworben. Nun spricht er sich gegen die EU aus – aus Kalkül.

Boris Johnson hat sich entschieden. Lange saß der charismatische Politiker zwischen den Stühlen und hatte sich geziert: Welcher Seite im Kampf um Europa sollte er sich zuschlagen? Ausgewiesen als Euroskeptiker, seit er in den 1990er Jahren als Korrespondent des „Telegraph“ in Brüssel arbeitete, wurde seine Haltung später durchaus EU-freundlicher, als ihm als Bürgermeister von London das Wohl des Finanzdistrikts am Herzen lag. Seit Monaten umwarben ihn die EU-Gegner, und die Versuche von Seiten des Premierministers David Cameron, ihn auf seiner Seite zu halten, waren nicht weniger intensiv. Am Sonntagabend war das Stück „Warten auf Boris“ endlich vorbei. Der 51-Jährige erklärte, dass er im kommenden Referendum für den Brexit, den britischen Austritt aus der EU, streiten wird. Die Entscheidung ist nur in zweiter Linie seinen Bedenken gegenüber Brüssel geschuldet. Vor allem ist es ein Karriereschritt: Er will David Cameron als Chef der Konservativen Partei und Premierminister ablösen.

Es soll die Krönung einer politischen Laufbahn werden, die seine Kollegen bisher vor Neid hat erblassen lassen. Denn Johnson ist ein Ausnahmepolitiker. Welcher Politiker im Königreich kann sich rühmen, dass die Leute ihn allein beim Vornamen erkennen? Nur Boris kann es. Früher nannten ihn die Boulevardblätter wegen seiner vielen außerehelichen Eskapaden „Bums-Boris“. Heute ist das eher vergessen, und er heißt nur noch „Boris“. Oder auch „Bo-Jo“. Da schwingt eine gewisse Zärtlichkeit mit. Kein Zweifel: Die Briten mögen ihn. Oder wie es Johnson selbst einmal ausdrückte: „Männer, die Frauen lieben, werden von Frauen geliebt.“

Johnson kommt bei allen Parteien gut an

Alexander Boris de Pfeffel Johnson, wie sein voller Name heißt, ist der einzige konservative Politiker im Land, der quer über alle Parteiengrenzen ankommt. Seine Auftritte in der TV-Satire-Sendung „Have I got news for you“ haben zur Gründung von Fanclubs geführt, seine ironischen Bemerkungen zum Zeitgeschehen lockern den drögen politischen Alltag auf, und im Internet finden sich Webseiten für „Boris-Zitate“. „Wenn Sie konservativ wählen“, versprach er einmal während des Wahlkampfs 2005, „wird das Ihren Frauen größere Brüste verschaffen und Ihre Chancen erhöhen, einen BMW zu gewinnen“. Kein Wunder, dass er damals mit großer Mehrheit den Unterhaussitz von Henley erringen konnte, den er 2008 aufgab, um für die Bürgermeisterwahl in London anzutreten.

Mit seinem wuscheligen blonden Haarschopf und seinen verknitterten Anzügen hat der ehemalige Journalist so etwas wie ein Markenzeichen geschaffen. Aber vor allem ist es sein Mundwerk, sein Mutterwitz und seine Respektlosigkeit, die ihm Sympathien einbringen. Selbst wenn sich hin und wieder im Ton vergreift und Witzeleien über Schwarze macht oder gleich ganze Städte beleidigt. Über Portsmouth hat er einmal gelästert: „Ein Ort, der zu voll ist mit Drogen, Fettleibigkeit und Labour-Abgeordneten“. Und Papa Neuguinea charakterisierte er durch „Orgien des Kannibalismus und Häuptlingsmorde“. Doch die Briten mögen ihn trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb. Der Fernsehmoderator Jeremy Clarke sagte ihm einmal ins Gesicht: „Die meisten Politiker sind ziemlich inkompetent und legen dann eine dünne Schicht an Kompetenz auf. Sie scheinen es anders herum zu machen.“ Das trifft es ziemlich gut. Johnson spielt den Polit-Clown, aber hinter der Fassade stecken ein messerscharfer Intellekt und ein unermüdlicher Ehrgeiz. Und am Ende scheint er immer zu gewinnen. 2008 trat er zum ersten Mal für den Job des Londoner Bürgermeisters an und siegte überraschend gegen einen anderen Volkstribun, den Labour-Politiker Ken Livingstone. Vier Jahre später wiederholte er das Kunststück mit über einer Million Direktstimmen, viele davon selbst von Labour-Wählern, und ist mittlerweile der beliebteste Konservative im Land.

Johnson will nationale Souveränität bewahren

Jetzt wirft Johnson für die Brexit-Kampagne sein Gewicht in die Waagschale. Am Montag begründete er seinen Schritt mit dem Argument, dass es ihm vor allem um die Bewahrung nationaler Souveränität gehe. Zu lange schon gebe es schon einen Prozess der „legalen Kolonialisierung“ innerhalb der EU, immer mehr britische Gesetze würden in Brüssel gemacht. „Das fundamentale Problem“, so Johnson, „bleibt: Sie haben ein Ideal, das wir nicht teilen. Sie wollen eine wirklich föderale Union schaffen, wenn die meisten Briten dies nicht wollen.“ Es gebe keinen Grund, warum es Großbritannien außerhalb der EU nicht gut gehen würde, immerhin „haben wir das größte Empire kommandiert, das die Welt jemals gesehen hat“. Jetzt sei die Gelegenheit zu zeigen, „wie wichtig uns Selbstbestimmung ist. Eine Stimme für den Verbleib würde in Brüssel als grünes Licht für mehr Föderalismus und für die Erosion der Demokratie gesehen werden.“

Hat in Boris Johnson nun einen charismatischen und beliebten Widersacher: Premierminister David Cameron.
Hat in Boris Johnson nun einen charismatischen und beliebten Widersacher: Premierminister David Cameron. © REUTERS | STEFAN WERMUTH

Johnsons Argumente sind nicht neu, man hört sie seit mehr als zwanzig Jahren. Die Angst vor dem Superstaat, in dem die nationale Identität untergeht, steckt hinter Johnsons Ausführungen. Seine Brüsseler Korrespondentenzeit, damals, als Bundeskanzler Helmut Kohl von den „Vereinigten Staaten von Europa“ schwärmte, hat ihn wohl mehr geprägt als er zugeben mag. Überraschend ist seine Lern-Resistenz. Die Zugeständnisse, die Premierminister Cameron vom letzten Gipfel nach Hause brachte, sollten ihn doch beruhigen: Großbritannien hat zukünftig einen „speziellen Status“, ist befreit von der Verpflichtung zu „einer immer engeren Union“ und bekommt Garantien, dass Initiativen der Eurozone nicht nachteilig für Nicht-Euro-Länder ausfallen werden. Doch Johnson verfolgt lieber den Traum vom nationalen Alleingang, von der Schaffung eines europäischen Singapurs am Westrand Europas, das im Freihandel sein Glück sucht.

Riesiges Plus für das Brexit-Lager

Auch wenn die Argumente altbekannt sind, wird Johnson für das Brexit-Lager ein riesiges Plus sein. Er kann nicht nur konservative Wähler erreichen, sondern Bürger quer über das politische Spektrum ansprechen. Anders als der Ukip-Chef Nigel Farage, der die Angst vor der Immigration schürt und als Austrittsgrund bemüht, schreckt Boris nicht die gemäßigten Wähler ab. Sein Optimismus, seine Schlagfertigkeit und sein Humor werden die Wunderwaffen sein, mit denen den Briten ein Alleingang nicht nur machbar sondern wünschenswert gemacht werden soll.

Dabei ist es für Boris Johnson gar nicht so entscheidend, ob er das Referendum gewinnen wird. Sein eigentliches Ziel ist die Nachfolge von Cameron. Zwar hat immer wieder beteuert, dass „meine Chancen, das Amt des Premierministers zu erringen, so groß sind wie die, von einem Frisbee enthauptet zu werden. Oder als Olive wiedergeboren zu werden.“ Doch an seinen Ambitionen gibt es keinen Zweifel. Cameron hat schon angekündigt, nicht mehr für eine dritte Amtszeit zur Verfügung zu stehen. Um gegen den bisherigen Favoriten, den Schatzkanzler George Osborne, gegenhalten zu können, braucht Johnson jetzt den Schlagabtausch über ein Thema, das die Nation so leidenschaftlich bewegt wie kein anderes. Selbst wenn er verlieren sollte, würde er doch bei der zutiefst euroskeptischen Parteibasis als der noble Streiter gelten, der seine Prinzipien über alles stellt. Und die Basis hat das Sagen bei der nächsten Chefwahl. Die britischen Buchmacher jedenfalls haben Johnsons Chancen, dereinst Premier zu werden, am Wochenanfang deutlich höher bewertet.