Athen. Ministerpräsident Alexis Tsipras muss um seine Mehrheit bangen. Die Deutschen fühlen sich in Griechenland derzeit nicht willkommen.
Es ist eine Herkulesaufgabe für Griechenlands Ministerpräsidenten Alexis Tsipras: Am heutigen Mittwoch muss das Parlament in Athen der vom EU-Gipfel verlangten Modernisierung des Finanz- und Justizsystems zustimmen. Tsipras könnte das Votum zum Verhängnis werden – gibt es zu viele Abweichler?
Abendblatt.de hält Sie über die Griechenland-Krise mit einem Live-Blog auf dem Laufenden:
Demo gegen "barbarisches Sparen"
Tausende Demonstranten haben am Mittwochabend im Zentrum Athens gegen die neuen Sparauflagen protestiert. Zu den Aktionen aufgerufen hatten die kommunistische Gewerkschaft Pame und die Gewerkschaft der Staatsbediensteten (Adedy), wie das Staatsradio berichtete. Die Demonstrationen fanden unter dem Motto „Gegen die barbarischen Sparmaßnahmen“ statt. Die Demonstrationen verliefen zunächst friedlich, berichteten Reporter vor Ort.
Berichte: EZB stockt Nothilfe auf
Die Europäische Zentralbank (EZB) greift den angeschlagenen Banken in Griechenland nach Medieninformationen weiter unter die Arme. Noch vor einer mit Spannung erwarteten Parlamentsabstimmung am späten Mittwochabend in Athen über weitere Reformen habe die Notenbank die sogenannten Ela-Hilfen um weitere 900 Millionen Euro aufgestockt, berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg. Ein Sprecher der EZB wollte die Meldung nicht kommentieren. Die Entscheidung für eine weitere Anhebung der Ela-Hilfen („Emergency Liquidity Assistance“) soll während einer Telefonkonferenz der EZB-Ratsmitglieder getroffen worden sein, hieß es weiter.
Deutsche in Griechenland nicht willkommen?
Die Nachrichtenlage wirkt sich auch auf das Reiseverhalten der Deutschen aus. Dass dem so ist, bestätigt im Fall Griechenland eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts Insa Consulere. Darin machte sich die Hälfte der Befragten (52 Prozent) Sorgen, in Griechenland derzeit kein gern gesehener Gast zu sein. Fast die gleiche Zahl der Befragten (51 Prozent) sagte, das Land sei für sie derzeit kein attraktives Reiseziel. Dennoch kann sich rund ein Drittel (34 Prozent) einen baldigen Griechenland-Urlaub aus Solidarität mit der Bevölkerung vorstellen. Besonders wichtig ist den Deutschen offenbar, dass sie im Krisenfall eine sofortige Risikoeinschätzung ihres Reiseveranstalters erhalten (84 Prozent) und einen schnellen Rückflug ohne Aufpreis bekommen (85 Prozent). Ebenso viele (84 Prozent) wollen kostenfrei umbuchen oder stornieren, wenn sie noch zu Hause sind, aber schon gebucht haben.
Das muss Griechenland jetzt anpacken
Die griechische Regierung hat vor dem nächsten Hilfspaket noch eine Liste der Eurogruppen-Partner abzuarbeiten. Hier finden Sie, was schon getan ist und was weiter auf der To-Do-Liste steht:
Erledigt:
# Straffung des Mehrwertsteuersystems und die Ausweitung der Steuerbemessungsgrundlage, um die Einnahmen zu erhöhen
# Erste Maßnahmen zur Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit des Rentensystems
# Sicherstellung der vollen rechtlichen Unabhängigkeit des griechischen Statistikamtes Elstat
# Vollständige Umsetzung von Fiskalpakt-Regeln, die es u.a. ermöglichen, bei Abweichung von Sparzielen quasi automatisch Ausgabenkürzungen einzuführen. Über die Einhaltung von Budgetregeln muss künftig wie in anderen Euro-Ländern auch ein unabhängiger Fiskalrat wachen.
Geplant an diesem Mittwoch:
# Reform des Zivilrechtssystems, die u.a. zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren und zu Kostensenkungen führen soll
# Umsetzung der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten
Noch offen:
# Vorlage eines detaillierten Reform-Zeitplans, der Klarheit über die mittelfristige Ausrichtung der Politik schaffen soll
# Abschluss der umfassenden Rentenreform bis Oktober
# Einführung von verkaufsoffenen Sonntagen und Schlussverkaufsperioden
# Liberalisierung des stark reglementierten Apotheken-, Bäckereien- und Milchmarktes
-# Privatisierung des Stromübertragungsnetzbetreibers Admie (oder Alternativmaßnahme)
# Modernisierung der Regeln für Tarifverhandlungen, Streiks und Massenentlassungen
# Stärkung des Finanzsektors z.B. durch die Beseitigung sämtlicher Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme
# Vorlage eines neues Plans zur Privatisierung von Staatsvermögen inklusive der Übertragung von Vermögenswerten in Höhe von bis zu 50 Milliarden Euro an einen unabhängigen Privatisierungsfonds
# Modernisierung und Entpolitisierung der griechischen Verwaltung und Einsparung von Kosten
Umfrage: Die meisten Deutschen lehnen Verhandlungen ab
Die meisten Deutschen sehen die Verhandlungen über neue Hilfsmilliarden für Griechenland laut einer Umfrage skeptisch. In einer Erhebung für das Nachrichtenportal „Focus Online“ lehnten 56 Prozent der Befragten folgende These ab: „Der Bundestag hat über Griechenland abgestimmt. Ich befürworte die Entscheidung, Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket aufzunehmen.“ 33 Prozent der Befragten stimmten dem zu, 11 Prozent machten keine Angabe.
Der Bundestag hatte am Freitag neuen Gesprächen mit Griechenland über ein drittes Hilfsprogramm zugestimmt. Die am Mittwoch veröffentlichten Ergebnisse sind nach Angaben des Instituts Insa repräsentativ für die Bevölkerung.
Griechenland hat weiter die höchste Schuldenlast in Europa
Griechenland hat in der EU immer noch die höchste Schuldenlast - auch wenn die Lage sich etwas gebessert hat. Am Ende des ersten Quartals dieses Jahres betrug die öffentliche Verschuldung gemessen an der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt BIP) 168,8 Prozent, wie das Europäische Statistikamt Eurostat am Mittwoch in Luxemburg mitteilte. Dies ist aber immerhin eine Verbesserung gegenüber dem Vorquartal mit 177,1 Prozent und dem Vorjahreszeitraum mit 174,3 Prozent. Der größte Teil waren Kredite mit 129 Prozent des BIP.
Griechenland schaffte damit laut Statistik den stärksten Rückgang. Allerdings schreibt der Maastricht-Vertrag für die Europäische Währungsunion vor, dass die Staaten ihre gesamten Staatsschulden auf lediglich 60 Prozent begrenzen müssen - dieses Ziel wurde weit verfehlt. Die griechischen Schulden beliefen sich im ersten Vierteljahr auf insgesamt 301 Milliarden Euro.
Das hochverschuldete Griechenland hat seit 2010 zwei internationale Rettungspakete von 240 Milliarden Euro erhalten und verhandelt derzeit ein drittes Programm.
An zweiter Stelle der Negativ-Liste stand Italien mit einer Verschuldung von 135,1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Platz drei belegte Portugal mit 129,6 Prozent. Die niedrigsten Quoten meldeten Estland (10,5 Prozent), Luxemburg (21,6 Prozent) und Bulgarien (26,6 Prozent).
Griechenland-Krise: So hilft die Eurogruppe
Tsakalotos: Verhandlungen mit Gläubigern könnten Freitag beginnen
Griechenland könnte schon an diesem Freitag Gespräche mit den Gläubigern über ein neues Hilfspaket aufnehmen. Eine Einigung müsse dann bis spätestens zum 20. August stehen, fügte der Finanzminister Euklid Tsakalotos am Mittwoch im Parlament in Athen hinzu. Bis dahin muss Athen knapp 3,2 Milliarden Euro an die Europäische Zentralbank zurückzahlen. Der Minister äußerte sich zuversichtlich, dass das Parlament am Mittwochabend die letzten Reformgesetze billigen werde. Sie sind Teil der mit den Geldgebern vereinbarten Voraussetzungen für die Gespräche über weitere Finanzhilfen. Es geht um Reformen im Bereich Justiz und Bankwesen.
Umfrage: Schäubles Ansehen profitiert von Griechenland-Krise
Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts für das "Capital-FAZ-Elite-Panel" ist das Ansehen des aus dem Ausland kritisierten Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble bei den deutschen Führungskräften auf einen neuen Bestwert gestiegen. Schäuble profitiert demnach unter anderem von seinem resoluten Auftreten in den Verhandlungen mit Griechenland: 92 Prozent (2014: 84 Prozent) bescheinigen ihm eine gute Arbeit. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel verliert dagegen: Der SPD-Chef überzeugt mit seiner Arbeit nur noch 37 Prozent (48 Prozent), obwohl er viele Positionen vertritt, die in der Wirtschaftselite auf große Zustimmung treffen.
Chronologie der Griechenland-Krise
Juncker: Angst führte im Griechenland-Poker zur Einigung
Nach Einschätzung von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war es vor allem die Angst vor den unkalkulierbaren Folgen eines Grexit, die eine Einigung im griechischen Schuldendrama ermöglicht hat. „Man hat nicht das Schlimmste verhindert, weil man besonders klug war, sondern weil man Angst hatte“, sagte der Luxemburger der belgischen Tageszeitung „Le Soir“ (Mittwoch). „Es ist die Angst, die das Abkommen ermöglicht hat.“
Juncker kritisierte zugleich, dass sich bei den jüngsten Verhandlungen in der EU ein Bruch der solidarischen Bindungen gezeigt habe. Dies sei nicht nur beim Thema Griechenland, sondern auch beim Thema Migration der Fall gewesen. Mit Blick auf die Zukunft stimme ihn dies sehr besorgt, sagte der Kommissionspräsident.
Auf die von vielen Seiten geäußerte Kritik an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ging Juncker nicht näher ein. Zu dessen Vorschlag für einen zeitweisen Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone sagte er der Zeitung: „Ich sehe das weniger dramatisch als Sie“. Ein Grexit sei nicht die gewünschte Lösung gewesen. Nur bei einem Scheitern der Verhandlungen wäre eine solche Option aufgegriffen worden.
Tsipras mit Appell an potenzielle Syriza-Abweichler
Um ein weiteres Bröckeln des Koalitionslagers zu verhindern und das Kernprojekt zu retten, legte Tsipras eine heftig umstrittene Initiative zur höheren Besteuerung der Bauern auf Eis. Außerdem wurden potenzielle Abweichler in der linken Regierungspartei Syriza persönlich angesprochen, um sie auf Regierungslinie zu bringen.
Tsipras rief am Dienstagabend den linken Syriza-Flügel auf, „die Wünsche und Hoffnungen“ der Gesellschaft zu akzeptieren. Erst wenn das Hilfsprogramm unter Dach und Fach ist, könnte die Linke ihre Meinungsverschiedenheiten in den Parteigremien klären.
Ratingagentur stuft Griechenland hoch
Die Auguren der Finanzmärkte zeigten sich von der politischen Unsicherheit in Athen unbeeindruckt. Die US-Ratingagentur Standard & Poor's hob am Dienstagabend die Einstufung der Kreditwürdigkeit Griechenlands um zwei Stufen auf „CCC+“ an. Zur Begründung erklärte sie, nach der Einigung auf Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket und dem Erhalt einer Brückenfinanzierung von sieben Milliarden Euro sei ein schneller Ausfall der Athener Zahlungen an Privatgläubiger vermeidbar. Zudem sei die Wahrscheinlichkeit eines Ausscheidens Griechenlands aus der Eurozone bis 2018 unter 50 Prozent gesunken.
Syriza vor der Zerreißprobe
Unter schweren Verwerfungen in der Regierung hatte das griechische Parlament am vergangenen Donnerstag eine Rentenreform und eine Erhöhung der Mehrwertsteuern beschlossen. Es hatte damit die ersten Voraussetzungen für neue Hilfen fristgemäß erfüllt. Doch wegen 39 Abweichlern war die eigene Mehrheit der Regierung im 300 Sitze umfassenden Parlament von 162 auf 123 Abgeordnete geschrumpft. Die Reformen kamen nur mit Stimmen der Opposition durch.
Bis Mittwochnacht muss das Parlament nun die Modernisierung des Justizsystems und die Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Banken billigen. Der Sprecher der Syriza-Fraktion, Nikos Filis, drohte im Rundfunk: „Wenn wir am Mittwoch nicht mindestens 120 Stimmen bekommen, werden wir so nicht weiter regieren können.“
Künftig sollen Kreditnehmer ihre Wohnungen verlieren können, wenn sie ihre Zins- und Tilgungsraten an die Banken nicht rechtzeitig zahlen. Das Bankengesetz soll Spareinlagen bis 100 000 Euro sichern; bei Geldeinlagen über 100 000 Euro sollen sich Sparer allerdings wie die Aktionäre an der Rekapitalisierung maroder Banken beteiligen.
Um die Reformen durchzubringen, verschob die Regierung eine Debatte über die Abschaffung wichtiger Steuervergünstigungen für die Bauern. Abgeordnete aller Parteien aus ländlichen Regionen wollten das Gesetz kippen. Auch weitere Teile der Rentenreform wurden von Mittwoch auf Anfang August verschoben, wie es in Regierungskreisen hieß.
Griechenland ist mit 313 Milliarden Euro verschuldet und steht chronisch kurz vor der Pleite. Nach dem Beschluss der Justiz- und Bankengesetze könnten die Gespräche mit den Gläubigern über eine neue Finanzhilfe beginnen, sagte eine Regierungssprecherin in Athen. Das neue Hilfspaket soll bis zu 86 Milliarden Euro für drei Jahre umfassen.
dpa/HA