Einst war die Nordatlantische Allianz ein Selbstverteidigungsbollwerk gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten. Nach dem Zerfall des Ostblocks traten weltweite Einsätze und der Kampf gegen den Terror in den Vordergrund. Jetzt stellt Russlands Präsident das Bündnis vor neue Herausforderungen

Ende Oktober 2014 sahen die beiden derzeit wohl einsamsten Menschen der Welt etwas sehr Seltsames. Der norwegische Wissenschaftler Professor Yngve Kristoffersen und sein Begleiter Audun Tholfsen erblickten mitten in der arktischen Eiswüste ein Licht am Horzont. Seit August 2014 leben und forschen die beiden Männer auf einer treibenden Eisscholle im arktischen Meer.

An diesem Abend befand sich die Scholle knapp nordwestlich des Nordpols. Als die Norweger sich dem Licht näherten, erblickten sie eine gigantische schwarze Form im Eis – das russische Atom-U-Boot „Orenburg“ der 13.700 Tonnen verdrängenden Delta-III-Klasse. Die „Orenburg“ trug früher 16 nuklear bestückte Interkontinentalraketen und dient nun als Basis für Mini-U-Boote und Spionagemissionen.

Die Gegenwart des U-Boot-Giganten in Polnähe unterstreicht die Ankündigung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, eine Kommandostreitmacht aus 6000 Soldaten in der Nordpolarregion stationieren zu wollen. Moskau beansprucht den gesamten unterseeischen Lomonossow-Rücken, dessen Fläche doppelt so groß ist wie die Frankreichs und unter dem riesige Rohstoffvorkommen vermutet werden. Kanada, Dänemark, Norwegen und auch die USA – via Alaska – erheben ebenfalls Ansprüche. 2007 ließ Putin ein U-Boot eine russische Titan-Fahne auf dem Meeresboden in mehr als 4261 Meter Tiefe unter dem Nordpol verankern – ein klarer Besitzanspruch.

Etwa zeitgleich mit der militärischen Aggression in der Ostukraine und der Annexion der Krim ließ der Kreml ständig Kampfflugzeuge die Einsatzbereitschaft der Nato-Luftwaffen testen. Mehr als 400-mal mussten Alarmrotten der Atlantischen Allianz 2014 von Norwegen über die Schwarzmeerregion bis zum Atlantik aufsteigen, um russische Maschinen, darunter atomar bestückbare Bomber, abzufangen, die entweder kurz vor dem Luftraum der Nato-Staaten abdrehten oder sogar in ihn eindrangen. Die schwedische Marine jagte ebenfalls im Oktober vergeblich ein vermutlich russisches U-Boot, das in den Gewässern vor Stockholm gesichtet worden war. Es hieß, Drohungen aus Russland hätten die Schweden dazu bewogen, die Suche abzubrechen.

Die Sicherheitslage hat sich so verschärft, dass die Verteidigungsminister der Nato auf ihrer Tagung in Brüssel nun die Personalstärke der Schnellen Eingreiftruppe mehr als verdoppeln wollen. Es ist eine Aufholjagd: Während die europäischen Mitgliedstaaten der Allianz nach der Auflösung des sowjetischen Imperiums und des Warschauer Paktes 1991 die Friedensdividende eingestrichen und massiv abgerüstet haben, hat Russlands Präsident seitdem keine Kosten und Mühen gescheut, aus der maroden Konkursmasse der einstigen Sowjetarmee wieder eine der stärksten Streitkräfte der Welt zu formen. Putins Griff über die Grenzen der Ukraine, seine Versuche, die Baltenstaaten und Polen einzuschüchtern, stellen für die Nato eine akut neue und doch altbekannte Herausforderung dar.

Der Nato-Experte Professor Johannes Varwick von der Universität Halle sagte der „Südpresse“ dazu, es sei nun Abschreckung nötig. Russland sei „längst nicht mehr Partner, sondern Gegner“. Und ein rationaler Dialog mit Putin sei nicht mehr möglich. „Das Muster ist riskant“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im November auf der Ämari-Luftwaffenbasis in Estland über die Offensivmanöver der russischen Luftwaffe. In Ämari starten auch deutsche Eurofighter und A-10 Erdkampfflugzeuge der USA.

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat betont, es sei wichtig, „dass die Nato Präsenz zeigt“. Doch der frühere Kommandeur des Nato-Regionalhauptquartiers im niederländischen Brunssum, der ehemalige deutsche General Egon Ramms, sagte der „Tagesschau“ 2014: „Putin hat derzeit überhaupt kein Risiko zu tragen, denn er weiß, dass man in Europa nicht mehr willens oder in der Lage ist, eine Drohkulisse aufzubauen.“ So hat die Bundeswehr ihre einst mehrere Tausend Exemplare zählende Panzerarmee auf militärisch fast wirkungslose 220 abgerüstet, die Niederlande haben gar keine Panzer mehr. „Wir haben uns zu viel auf Auslandseinsätze allein fokussiert“, sagte Ramms, „eigentlich müssten 50 Prozent der Streitkräfte für die Bündnisverteidigung zur Verfügung stehen und die Europäer in der Lage sein, innerhalb von 30 Tagen 100.000 Mann bereitzustellen.“ Doch davon kann gar keine Rede sein. Dabei besteht die Bündnispflicht nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages nach wie vor.

Die Nato war 1949 als Reaktion auf diverse bilaterale Bündnisverträge – aus denen später der Warschauer Pakt erwuchs – der Sowjetunion mit ihren osteuropäischen Vasallenstaaten gegründet worden und hat in den mehr als 60 Jahren ihres Bestehens mehrfach Charakter und Strategie verändert.

In der Phase „Nato I“ zwischen 1949 und 1989 war sie ein reines Verteidigungsbündnis gegen einen klar definierten Gegner. Ihr Hauptinstrument war die nukleare Abschreckung. Amerikaner und Russen besaßen – und besitzen immer noch – mit der Zweitschlagskapazität eine „gegenseitige gesicherte Zerstörungsfähigkeit“. Ein Krieg zwischen Nato und Warschauer Pakt wäre konventionell wie atomar geführt worden und hätte zur Zerstörung großer Teile der Welt führen können.

Die Phase „Nato II“ von 1990 bis 1999 nach dem Zerfall des Sowjetimperiums stellte die Nato vor ein verändertes Aufgabenspektrum mit der Herausforderung, das sicherheitspolitische Vakuum östlich ihrer bisherigen Grenzen auszufüllen und ein auch politischer Stabilitätsanker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu werden. Es gelang; allerdings wurde die Sinn- und Existenzfrage bezüglich der Nato in Europa laut und klar gestellt: Ist ohne die Bedrohung aus dem Osten ein derartiger Militärkoloss überhaupt noch erforderlich? Die Atlantiker in den USA und auf dem alten Kontinent warnten vor allzu großer Friedenseuphorie; aber manche Begründungen für eine Weiterexistenz der Nato wirkten damals angesichts des dynamischen europäischen Einigungsprozesses und der sich abzeichnenden Sicherheitspartnerschaft mit Russland schon etwas bemüht.

Die „Phase III“ der Nato wurde eingeleitet durch den nicht unumstrittenen Kriegseinsatz von mehr als 800 Kampfflugzeugen aus 13 Staaten der Allianz 1999 im Kosovo, vor allem aber durch die Terroranschläge des 11. September 2001. Plötzlich kamen die größten Bedrohungen für den Nato-Raum nicht mehr aus Osteuropa, sondern von jenseits des Kontinents. Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer schrieb 2004: „Natürlich bleibt die kollektive Verteidigung unseres Bündnisterritoriums eine Kernaufgabe der Nato. Aber wir können unsere Sicherheit heutzutage nicht mehr gewährleisten, wenn wir uns nicht den Risiken und Bedrohungen stellen, die sich fern unserer Heimat abzeichnen.“ Die Phase III war gekennzeichnet vom Abbau der großen Panzerarmeen und dem Aufbau kleiner, mobiler Eliteeinheiten, die unter anderem in Afghanistan gegen die Taliban zum Einsatz kamen. Hightech mit ferngesteuerten Drohnen wurde eingesetzt. Es war – und ist immer noch – die Ära des asymmetrischen Krieges regulärer Armeen gegen terroristische Milizen. Die radikalislamische Miliz „Islamischer Staat“ verband diese Guerilla-Taktik mit konventionellen, raumgreifenden Bodenoffensiven und dem Einsatz modernster Waffen zum hochgefährlichen „hybriden Krieg“, gegen den der Westen erst eine schlüssige Antwort finden muss.

Mit dem Wiederaufstieg Russlands zu einer antiwestlich positionierten militärischen Großmacht könnte man die Nato in die Phase IV eintreten sehen, mit der sich der strategische Kreis ein Stück schließen würde. Potenzieller Gegner der Atlantischen Allianz in den Planspielen ist neben dem radikalislamischen Terror nun auch wieder die hochgerüstete Streitmacht Moskaus. Und falls die konfrontative Entwicklung in einen zweiten Kalten Krieg münden sollte, dann wären die Nato-Staaten ein weiteres Mal gehalten, zur Abschreckung aufzurüsten.

Im Jahre 2009 stellte der Nato-Experte Johannes Varwick anlässlich des 60. Gründungsjubiläums der Allianz die geradezu prophetischen Fragen: „Wie weit reicht der Mitgliedsradius der Allianz und wann ist die inneratlantische Kohäsions- und die russische Toleranzschwelle erreicht? Wie kann Russland in eine neue internationale Sicherheitsarchitektur eingebunden werden?“

Bekanntlich gelang dies nicht; und die arrogante Haltung der neokonservativen US-Regierung unter George W. Bush, die keine Rücksicht auf russische Sicherheitsbedenken nahm, sowie die nationalistisch-großrussischen Ambitionen Putins führten zu einem Bruch. Die Nato mit ihren derzeit 28 Mitgliedstaaten muss nun ihre Rolle zwischen konventionellem Verteidigungsbündnis, Ad-hoc-Baukasten für Out-of-area-Einsätze und politischem Stabilitätsanker neu definieren. Die massive Abrüstung Europas macht das sicherheitspolitische Engagement der USA auf dem alten Kontinent zu einer Schlüsselfrage – in einer Zeit, in der sich Amerika stärker Asien zuwendet und die Beziehungen mit Europa stark abgekühlt sind.

Der ehemalige lettische Verteidigungs- und Außenminister sowie Vizeregierungschef Professor Dr. Artis Pabriks, der derzeit für Lettland im Europaparlament sitzt, sagte dem Abendblatt: „Soweit es die Ukraine-Krise – und nun wohl auch Griechenlands Hinwendung zu Moskau – betrifft, muss die europäische Öffentlichkeit verstehen, dass die jüngsten Spannungen zwischen der EU und Russland ein Ergebnis einer westlichen Fehleinschätzung bezüglich der russischen Versuche sind, wenn nicht das Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder des früheren russischen Zarenreiches, so doch zumindest seinen Ruhm wiederherzustellen. In diesem geopolitischen Denken Russlands ist es erforderlich, die EU im Inneren und damit ihren geopolitischen Einfluss zu schwächen.“

Im Hinblick auf die Effektivität der Nato sei Moskau daran interessiert, die transatlantische Zusammenarbeit in der Verteidigungsallianz zu untergraben und einen Prozess zu fördern, um die amerikanische Präsenz in Europa weiter abzubauen. „Dies alles würde Russland einen größeren Hebel geben, um globale Prozesse zu beeinflussen“, sagt der lettische Spitzenpolitiker. Und schließlich müsse man in Europa begreifen, dass Russland „eines der glücklichsten Länder der Welt“ wäre, falls der Freihandelsvertrag TTIP mit den USA scheitern würde – denn auch dies würde die transatlantische Kooperation schlussendlich unterminieren.