Alberto Nisman ermittelte gegen Argentiniens Präsidentin und wird erschossen in seiner Badewanne gefunden. Viele glauben nicht an Selbstmord

Bogotá. Für Argentiniens Staatspräsidentin Cristina Kirchner war der Fall bereits nach Stunden klar: „Was war es, das einen Menschen zu der furchtbaren Entscheidung bringt, aus dem Leben zu scheiden?“, zog Kirchner, nur wenige Stunden nachdem Staatsanwalt Alberto Nisman tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde, einen Schlussstrich unter die hochbrisante Affäre. „Selbstmord“, lautet das Urteil der linksgerichteten Politikerin.

Rufen Politiker in der Regel in solchen brisanten Fällen dazu auf, die vollständigen Untersuchungsergebnisse abzuwarten, legt Kirchner ein schnelles Tempo bei der Aufarbeitung des Falles vor. Ihr zur Seite springt Sergio Berni, Staatssekretär im Sicherheitsministerium: „Alles deutet auf einen Selbstmord hin.“ Staatsanwältin Viviana Fein bestätigt, dass sich Nisman selbst erschossen habe, es könne allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, dass Nisman zum Selbstmord gezwungen worden sei. Ihre Behörde will die Umstände des Todes genauer untersuchen.

Der erschossen aufgefundene Sonderstaatsanwalt wollte eigentlich am Montag im Parlament über seine Ermittlungsergebnisse berichten, die Kirchner in Zusammenhang mit einem schweren Bombenattentat auf das jüdische Gemeindehaus Amia im Jahr 1994 stark belasten. Sie soll iranische Auftraggeber des schwersten Anschlags auf argentinischem Boden, bei dem 85 Menschen ums Leben kamen, gedeckt und Ermittlungsergebnisse vertuscht haben. Grund soll ein lukratives Ölgeschäft gewesen sein, das die Kirchner-Regierung abschließen wollte.

Doch statt den Parlamentariern über seinen Wissensstand Auskunft zu geben, starb Nisman in einer Blutlache in seinem Badezimmer. Ein Schuss, abgegeben aus einer Waffe Kaliber 22, beendete das Leben des Ermittlers. Ein Abschiedsbrief sei nicht gefunden worden. Die Kugel sei an der rechten Seite seines Kopfes eingedrungen, es gebe aber keine Austrittswunde. An Nismans Händen seien keine Schmauchspuren gefunden worden, was aber auch am Typ der verwendeten Waffe liegen könnte. Es sei nicht auszuschließen, das jemand Nisman zum Selbstmord „veranlasst“ habe. Die Waffe sei nicht in seiner Hand gewesen. Einbruchspuren gebe es nicht. Nach vorliegenden Erkenntnissen sei keine zweite Person in dem Badezimmer gewesen, allerdings gehörte die Tatwaffe auch nicht Nisman. Es muss also eine zweite Person involviert sein, die Nisman entweder die Waffe zum Selbstmord besorgt hat oder ihn dazu gedrängt hat. Der Fall birgt so viele Fragezeichen, dass sich Kirchner-Anhänger und -Gegner bereits einen Wettlauf um die wahrscheinlichste Theorie liefern.

Während sich die Kirchner-Regierung auf die Selbstmordthese festlegt, herrscht im Land Wut und Entsetzen. „Wer den Kirchnerismus untersucht, stirbt“, steht auf einem Schild, das Demonstranten in Buenos Aires mitgebracht hatten. Als „Kirchnerismus“ bezeichnen die Argentinier die Ära Néstor und Cristina Kirchner, die seit zwölf Jahren das Land regieren. Der inzwischen verstorbene Néstor Kirchner Kirchner hatte vor rund acht Jahren das Amt an seine Frau weitergeben, die danach zwei Wahlen gewinnen konnte.

Die Tageszeitungen „Clarin“ und „La Nation“ berichteten über zahlreiche Demonstrationen im ganzen Land. Spontan seien Tausende Menschen in den Abendstunden auf die Straßen gegangen und hatten Plakate mit der Botschaft „Ich bin Nisman“ in die Höhe gehalten, die an die Solidaritätsbekundungen nach dem Terrorattentat in Paris erinnerten. Viele sind empört darüber, wie schnell Kirchner nach dem mysteriösen Todesfall ihr Urteil über die Umstände gefällt hat. Auf der berühmten Plaza de Mayo im Herzen von Buenos Aires trommelten die Menschen vor Wut mit Kochlöffeln auf Blechtöpfe.

In den sozialen Netzwerken tobt der Streit um die Deutungshoheit des Todesfalles. Einer der am häufigsten verwendeten Hashtags bei Twitter war am Abend #CFKAsesina, der die Präsidentin gar als Mörderin brandmarkt. Der ungeheure Vorwurf, der im Raum steht: Kirchner habe nicht nur die Ermittlungsergebnisse zum Attentat vertuscht, sondern auch den Staatsanwalt beseitigen lassen. Zumindest für den ersten Teil der These wollte Nisman nach eigenen Angaben Beweise vorlegen, für den zweiten Teil des Vorwurfs gibt es allerdings bislang keinerlei Hinweise. Tragödie, Lügen, Fragen twitterte Kirchner am Abend und versucht sich von dem bösen Verdacht reinzuwaschen. Es gibt allerdings auch eine Gegentheorie, die von Kirchner-Freunden im Netz positioniert wird. Nisman habe sich in seine unhaltbaren Vorwürfe verrannt und keinen Ausweg mehr gewusst, als sich selbst das Leben zu nehmen, um vor dem Parlament nicht bloßgestellt zu werden.

All das kann die aufgebrachten Demonstranten aber nicht beruhigen: „Genug der Lügen“, riefen die Menschen in Buenos Aires und riefen spontan zu einem „Marsch für Nisman“ auf. Auch in Salta und Córdoba strömten die Menschen zusammen. Noch sind die Kundgebungen unorganisiert und spontan, doch schon haben erste Kirchner-Gegner für die nächsten Tage zu großen Protestmärschen aufgerufen. Die größte Verantwortung liegt nun auf den Schultern der Staatsanwaltschaft, die in dem hochsensiblen Fall exakt ermitteln muss. Welche Eigendynamik die Hintergründe des Falles noch entwickeln wird, ist noch gar nicht abzusehen. Zumindest eines steht fest: In den kommenden neun Monaten bis zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober, wird der Fall Nisman den Wahlkampf beherrschen.