Volksbegehren zur Begrenzung der Zuwanderung, zur Aufstockung der Goldreserven und zur härteren Besteuerung von Ausländern finden keine Mehrheit

Hamburg/Bern. Das idyllische Haufendorf Willadingen liegt auf 465 Metern Höhe im Verwaltungskreis Emmental im Schweizer Kanton Bern und ist gerade 220 Hektar groß. 211 Einwohner leben hier; pro Quadratkilometer sind das 96. Einen einzigen Ausländer hat es hierher verschlagen. Dieser Umstand reicht, um die Angst vor Überfremdung und Dichtestress in Willadingen umgehen zu lassen, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb. Das Tempo der Veränderung ist uns zu hoch, hieß es im Dorf.

Willadingen ist symptomatisch für die Atmosphäre in vielen Regionen der Schweiz. Aufgrund einer Forderung der Vereinigung Umwelt und Bevölkerung (Ecopop) musste das Wahlvolk des Alpenlandes am Sonntag über einen Antrag abstimmen, die Einwanderung künftig auf 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung zu begrenzen. Die Schweizer lehnten diese Forderung jedoch mit einer überwältigenden Mehrheit von 76 Prozent ab. Zudem waren die rund fünf Millionen Wahlberechtigten aufgerufen, über eine starke Erhöhung der Goldreserven der Schweizerischen Nationalbank und über die Abschaffung von Steuerprivilegien für Ausländer abzustimmen. Auch diese Initiativen wurden von den Wählern an der Urne verworfen – mit 78 beziehungsweise 60 Prozent. Die Regierung in Bern hatte die Schweizer sogar dazu aufgerufen, die Migrations-Initiative abzulehnen.

Und bemerkenswerterweise hatte sich auch die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP), die in der Parlamentskammer Nationalrat die stärkste Fraktion bildet, gegen die Ecopop-Initiative ausgesprochen. Dabei war die SVP doch die Initiatorin einer Volksabstimmung „Gegen Masseneinwanderung“ gewesen, für die sich eine hauchdünne Mehrheit ausgesprochen hatte. Doch die Ecopop-Initiative unterscheidet sich von der vorigen in einem wesentlichen Punkt: Sie wollte die Gesamtbevölkerung der Schweiz von jetzt gut acht Millionen bei neun Millionen abriegeln und statt eines jährlichen Zuzuges von Ausländern von 60.000 bis 80.000 nur noch noch gut 16.000 zulassen. Die SVP will lediglich jährliche Kontingente festlegen; allerdings müssen Details erst 2017 vorgelegt werden.

Es gibt Berechnungen, nach denen die Einwohnerzahl der Schweiz bis 2050 auf zwölf Millionen Menschen ansteigen könne. Jetzt schon beträgt der Ausländeranteil 24 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland mit seinen 81 Millionen Einwohnern sind es neun Prozent. Die Schweiz mit ihrer politischen Insellage – sie ist nicht Mitglied der Europäischen Union oder des Euro-Raumes – hat eine sehr spezielle Kultur, an deren Erhaltung die Bürger großes Interesse haben. Andererseits ist die Schweiz der Heidi-Idylle seit Langem Vergangenheit; das Land ist ein moderner Wirtschaftsstandort mit Unternehmen wie Nestle (u.a. Maggi, Nesquik, After Eight, San Pellegrino, Thomy, Kitkat), dem Speditionsriesen Kühne + Nagel oder den Pharmakonzernen Novartis und Roche. Es wird ungeheuer viel gebaut und entsprechend zubetoniert.

Die Ablehnung der Migrations-Initiative ist jedoch ein Indiz dafür, dass die meisten Schweizer mit sehr kühlem Hirn und nicht mit dem Herzen abgestimmt haben. Denn eine Annahme der Ecopop-Forderungen hätte die Schweiz von einem Zustrom dringend benötigter Fachkräfte und von bilateralen Staatsverträgen mit der EU abgeschnitten. Das Land wäre akute Gefahr gelaufen, Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu verlieren. Mehr als die Hälfte der Schweizer Exporte gehen in die EU.

Bereits die Annahme der SVP-Initiative hatte schwere Verstimmungen mit der EU zur Folge gehabt. Brüssel sah bestehende Abkommen mit Bern über die Freizügigkeit in Europa gebrochen. Der deutsche Unternehmer Klaus-Michael Kühne, der seit 40 Jahren in der Schweiz lebt, aber immer noch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hatte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor schweren wirtschaftlichen Schäden im Falle einer Annahme der Ecopop-Initiative gewarnt und die Ansicht vertreten, die Schweiz habe ohnehin ihre beste Zeit hinter sich. Zugleich hatte Kühne aber Verständnis für die Angst der Schweizer vor Überfremdung geäußert. Mit der vollen Übernahme der in der EU geltenden Personenfreizügigkeit sei die Schweiz „zu weit gegangen“. Fragen der nationalen Identität und Kultur werden aber in der Schweiz immer wichtiger.

Ein Ärgernis für viele Eidgenossen ist die Regelung, dass die in der Schweiz lebenden– aber nicht dort arbeitenden – 5500 reichen Ausländer wie Sebastian Vettel, Lewis Hamilton, Kimi Räikkönen oder Bernie Ecclestone nicht nach ihrem Einkommen besteuert werden, sondern pauschal nach ihren mutmaßlichen Lebenshaltungskosten. In der Regel wird dabei das Fünffache der Miete oder des Mietwertes des Hauses oder der Wohnung veranschlagt. Das Ergebnis ist ein Bruchteil der Steuerlast, die etwa in Deutschland zu erwarten wäre. Doch den Schweizern ist es offenbar wichtiger, dass reiche Ausländer bei ihnen gut leben und viel Geld ausgeben, als dass der Staat sie tüchtig schröpfen kann. Kleine Berggemeinden befürchteten die Abwanderung der reichen Gäste. Die Schweizer sind geradezu berüchtigt pragmatisch, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht.

Das galt auch bei der Ablehnung der Gold-Initiative. Sie hätte die Schweizerische Nationalbank dazu verpflichtet, ihren Goldvorrat von derzeit rund 1000 Tonnen fast zu verdreifachen. Mehr Goldreserven statt Euro und Dollar – dies hätte nicht nur den Handlungsspielraum der Nationalbank drastisch eingeschränkt, sondern auch für gefährliche Turbulenzen auf dem internationalen Goldmarkt sorgen können. Die seit drei Jahren geltende Euro-Kursuntergrenze von 1,20 Franken hätte wohl kaum noch verteidigt werden können.

Baden-Württembergs Europaminister Peter Friedrich (SPD) sagte zum Abstimmungsverhalten der Schweizer in Stuttgart: „Ich werte das als gutes Zeichen, dass die Schweiz nicht weiter in Richtung Abschottung tendiert. Die Vorstellung, man könne den Wohlstand einmauern, ist von gestern.“