Rebellen lassen in der Ostukraine abstimmen. Europäische Union und Regierung in Kiew erkennen Wahl nicht an. Angeblich Truppenbewegungen in Russland.

Donezk. Die Hoffnung auf Frieden nach monatelangem Blutvergießen hat die Ukrainer im Konfliktgebiet Donbass am gestrigen Sonntag zu Tausenden an die Wahlurnen getrieben. Das russische Staatsfernsehen, das auch in den Separatistenhochburgen Lugansk und Donezk in der Ostukraine empfangen wird, zeigte bei eisigen Temperaturen Schlangen mit wartenden Menschen. „Einen Weg zurück gibt es nicht, nur vorwärts, keinen Schritt zurück“, sagte eine Wählerin ernst in die Kameras. „Ukraine – goodbye!“, rief eine ältere Frau eher feierlich.

Mehr als ein halbes Jahr nach Beginn des blutigen Konflikts sehnen sich die Bewohner in der traditionell russisch geprägten Ostukraine nach Ruhe und Stabilität. Doch wie weit der Weg zur Normalität ist, zeigte der Auftritt des Donezker „Regierungschefs“ Alexander Sachartschenko im Wahllokal. Zwar präsentierte er sich in dem Schulgebäude demonstrativ im Anzug und nicht – wie sonst – in Tarnuniform. Um ihn herum standen allerdings schwer bewaffnete Uniformierte.

Die prorussischen Separatisten sicherten in Donezk wie sonst überall in den von ihnen kontrollierten Orten den reibungslosen Ablauf der Abstimmung. „Machtlos“ müsse Kiew zusehen, wie die Menschen trotz Angst vor den Regierungstruppen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, sagte Sachartschenko selbstbewusst. Tatsächlich blieben größere Störungen aus. Sachartschenko will selbst an der Macht bleiben – und sich erstmals durch die Wahl legitimieren lassen. Seine zwei Gegenkandidaten nahm offenbar kaum jemand ernst.

Die meisten Wahllokale sollten bis 20 Uhr Ortszeit (18 Uhr Mitteleuropäischer Zeit) geöffnet bleiben. Wegen des großen Andrangs wurde allerdings im Gebiet Lugansk die Stimmabgabe um zwei Stunden verlängert – bis 22 Uhr Ortszeit, wie „Wahlleiter“ Sergej Kosjakow sagte. Die Aufständischen in der Region Lugansk hatten insgesamt eine Million Wahlzettel drucken lassen. In Donezk gaben die prorussischen Kräfte die Zahl der Wahlberechtigten mit 3,2 Millionen Menschen an. Die genaue Zahl der Stimmberechtigten war allerdings unklar, weil in den vergangenen Monaten Hunderttausende aus der Krisenregion geflüchtet sind. Russland ließ in einigen Flüchtlingslagern eine Abstimmung zu. 100 Abgeordnete sollen in den „Volksrat“ der Republik Donezk und 50 in den „Volksrat“ von Lugansk gewählt werden. Die „Republikchefs“ sollen bereits am 4. November in ihre Ämter eingeführt werden.

Bei dem blutigen Konflikt in der Ostukraine kamen seit April Schätzungen zufolge rund 4000 Menschen ums Leben. Ukrainische Sicherheitskräfte warfen Russland auch am Wahltag vor, den Separatisten militärisch zu helfen. „Die intensive Verlegung von Militärtechnik und Soldaten des Gegners vom Territorium der Russischen Föderation setzt sich fort“, sagte der Sprecher des Sicherheitsrats, Andrej Lyssenko, in Kiew. Details nannte er nicht. Seit Anfang September gilt in der Ostukraine eine brüchige Waffenruhe.

Dass die proeuropäischen Kräfte in Kiew eine Woche nach ihrem Sieg bei der Parlamentswahl von einer „Farce“ sprechen und mit Strafverfahren drohen, lächelte Separatistenführer Sachartschenko weg. Kiew könne machen, was es wolle. Auf ein gewaltsames Eingreifen verzichtete das ukrainische Militär allerdings. Ursprünglich hatte der proeuropäische Präsident Petro Poroschenko am 7. Dezember in der Ostukraine regionale Wahlen nach ukrainischem Recht abhalten wollen.

Doch mit der Abstimmung am Sonntag untermauerten die prorussischen Kräfte weiter ihren Anspruch auf Eigenständigkeit. Nach ihren Referenden über ihre Unabhängigkeit im Mai sehen sich die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk mehr denn je auf dem Weg einer endgültigen Abspaltung von der in die EU strebenden Ukraine. Antiwestliche Reflexe sitzen in der Region mit ihrem starken Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche tief.

Als hätten sie ihre Texte auswendig gelernt, äußerten Wähler immer wieder Ähnliches vor den Fernsehkameras: „Ich bin gekommen, um für den Volkswillen zu stimmen. Dafür, dass es im Donbass eine vollwertige, wirkliche Volksmacht gibt. Ich bin freiwillig gekommen, so wie alle hier Anwesenden.“ Und auch dies wurde betont: „Niemand hat uns gezwungen – weder Soldaten mit Maschinengewehren noch andere.“

Nach den humanitären Lieferungen aus Russland deckten sich viele Menschen am Wahltag mit Gemüse und anderen Lebensmitteln ein. Die russische Hilfe beantwortet für viele auch, wie das vom Krieg gezeichnete Gebiet als unabhängige Region künftig überleben will. Zwar räumten selbst kremltreue Beobachter wie der Moskauer Funktionär Alexander Brod ein, dass die Wählerlisten Fragen aufwerfen würden. Aber er und auch Abgeordnete des russischen Parlaments betonten, dass dies eine Abstimmung unter besonderen Umständen sei. Weil Hunderttausende Menschen auf der Flucht sind, war sogar die Abstimmung per E-Mail im Internet erlaubt. Auch in Flüchtlingslagern auf russischem Gebiet stimmten Ukrainer zu Tausenden ab.

Zweifel, ob es bei dem Urnengang fair und frei zuging, wischten die Organisatoren weg. Russland hatte schon vorab erklärt, dass es die Ergebnisse – wie zuletzt auch die Parlamentswahl in Kiew – anerkennen werde. Kremlchef Wladimir Putin zeigt sich zudem weiter unbeeindruckt von Drohungen des Westens, Russland wegen seiner Ukraine-Politik zu bestrafen. Er benutzt mit Blick auf das Konfliktgebiet auch immer wieder den historischen Begriff Noworossija für die Region.

Die Wahl im Separatistengebiet dürfte dem Streben der prorussischen Kräfte neuen Auftrieb geben, einen Staat Noworossija zu errichten. Historisch gehört dazu ein deutlich größeres Gebiet als Donezk und Lugansk, die allein kaum lebensfähig sind. Weder in Kiew und Moskau gilt daher als ausgeschlossen, dass die Kämpfe aufflammen und sich dann auch wieder in Richtung der Küstenstadt Mariupol oder sogar bis zur wichtigen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer ausweiten.

Der ukrainische Geheimdienst leitete ein Strafverfahren „wegen des Versuchs der Eroberung der Staatsmacht“ gegen die Aufständischen ein. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Gefängnis, wie Geheimdienstsprecher Markian Lubkiwski mitteilte.