Mit Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi erhalten zwei Menschenrechtsaktivisten den Friedensnobelpreis, die nicht nur ihre Heimatländer Pakistan und Indien, sondern die Situation für Kinder und deren Familien weltweit verändert haben

Das Mädchen, das kein Opfer mehr sein wollte

Berlin. Ihr Vorname erinnert an eine Kriegsheldin, die paschtunische Kämpferin Malala, die in der Schlacht von Maiwand ihr Leben für den Kampf gegen die britischen Eroberer opferte. Doch weltweit berühmt wurde das Mädchen Malala Yousafzai zunächst als wehrloses Opfer. Dabei hatte sie schon lange zuvor begonnen, sich politisch zu engagieren – und damit ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Als die pakistanischen Taliban ab 2007 ihr grausames Emirat im pakistanischen Swat-Tal errichteten, verboten sie Frauen, das Haus ohne Begleitung männlicher Blutsverwandter zu verlassen, Männer durften sich den Bart nicht mehr scheren, und Mädchen wurde jeder Schulbesuch untersagt. Verstöße ahndeten die Taliban bisweilen mit öffentlichen Erhängungen. Doch der Lehrer Ziauddin Yousafzai ließ sich davon nicht einschüchtern.

Er unterrichtete in seiner Khushal Public School in der Swat-Hauptstadt Mingora weiterhin Mädchen in modernen Wissenschaften und auf Englisch, auch als sie nur noch heimlich am Unterricht teilnehmen konnten. Und Yousafzais Tochter Malala erzählte im Internet von ihrem Alltag unter der Herrschaft der selbst ernannten Gotteskrieger. Es war ein anonymer Blog im urdusprachigen Dienst des britischen Senders BBC, der in Pakistan viel Beachtung fand, aber eingestellt werden musste, nachdem die Yousafzais nach zahlreichen Todesdrohungen aus Swat flohen. Erst nachdem eine Offensive der pakistanischen Armee 2009 die Taliban weitgehend aus dem Tal vertrieben hatte, konnten die Yousafzais zurückkehren. In der Zwischenzeit war Malala von einer Tagebuchschreiberin zu einer politischen Aktivistin geworden.

Während ihr Vater seine Schule wieder aufbaute, setzte sich seine Tochter für die Bildung von Mädchen ein. Doch außerhalb ihrer Heimat wurde ihr Name erst bekannt, als man versuchte, sie umzubringen. „Wer von euch ist Malala?“, fragt der Maskierte mit dem Sturmgewehr, der am Nachmittag des 9. Oktober 2012 die Vorhänge des Schulbusses der Yousafzais aufreißt. Die Mädchen, die dort sitzen, sind auf dem Weg nach Hause, und als der Mann fragt, antwortet keine von ihnen. Aber alle sehen unwillkürlich Malala an. Sie schweigt und drückt nur fest die Hand ihrer besten Freundin, die neben ihr sitzt. Als die Kugeln sie knapp über dem linken Auge und in den Hals treffen, sinkt ihr Kopf auf die Schulter des Mädchens. Die Angreifer fliehen, der Schulbus rast ins Krankenhaus von Mingora.

Während die Ärzte versuchen Malalas Leben zu retten, löst ihre Geschichte eine weltweite Debatte von verblüffender Heftigkeit aus. Das Entsetzen über das Attentat der Taliban ist international und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Millionen von Mädchen, denen in zahllosen Ländern ihr Recht auf Bildung verwehrt wird. „Wir sind alle Malala“, schreibt die Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie in einem Zeitungsbeitrag, „Ich bin Malala“ wird zu einem Slogan weltweiter Demonstrationen, der frühere britische Premier Gordon Brown initiiert eine Uno-Kampagne für Mädchenbildung in Malalas Namen. Doch ausgerechnet in ihrer Heimat Pakistan wird Malala für einige zur Hassfigur. Zwar demonstrieren auch hier zahllose Menschen für sie und ihre Ideale. Doch andere sehen sie als künstlich aufgebaute Medienfigur, mit deren Hilfe Pakistan dämonisiert werden solle. Zwar haben sich die Taliban zu dem Anschlag bekannt, doch als die internationale Reaktion darauf so deutlich ausfällt, erklären die ihnen nahestehenden Parteien das Attentat zu einem verschwörerischen Machwerk der CIA. Malala, so wird gestreut, sei in Wahrheit gar nicht verletzt, sondern bei bester Gesundheit und in den USA. Der Kulturkampf, den ihr Engagement ausgelöst hat, wird dadurch nur umso deutlicher.

Tatsächlich können nur britische Ärzte ihr Leben retten. Seither lebt die junge Frau in Großbritannien. Ob sie jemals in ihre Heimat zurückkehren kann, ist fraglich, denn die Morddrohungen der Taliban gibt es noch immer, und durch ihre Berühmtheit ist sie zur Zielscheibe vieler weiterer geltungssüchtiger Radikaler geworden. Ihre gesamte Familie und zahlreiche Lehrer ihrer Schule mussten seither ebenfalls das Land verlassen. Als vergangenes Jahr statt Malala die Anti-Chemiewaffen-Organisation OPCW den Friedensnobelpreis erhielt, da schien es ein bisschen, als seien die Zeit und die Aufmerksamkeit der Mediengesellschaft über das Entsetzen und die Aufbruchstimmung nach dem Attentat hinweggegangen. Tragische Einzelfälle bannen das Interesse für ein paar Tage, dann verhallen sie. Aber so war es bei Malala nicht. Und das hat sie vor allem sich selbst zu verdanken.

Denn auch im Exil wurde die mittlerweile 17-Jährige wieder aktiv, sobald ihre Gesundheit es wieder erlaubte. Im vergangenen Jahr hielt sie eine Rede vor der Uno-Generalversammlung: „Ich spreche nicht für mich, sondern für jene, deren Stimmen nicht gehört werden.“ Und fügte hinzu: „Sie dachten, dass die Kugeln uns zum Schweigen bringen würden. Aber sie haben sich geirrt. Aus der Stille kamen Tausende von Stimmen.“ Doch die Rede hatte mehr als nur genretypische Feierlichkeit zu bieten, sondern immer wieder auch die scharfen Beobachtungen einer klugen jungen Frau, etwa als Malala über die Taliban sagte: „Sie glauben, dass Gott ein winzig kleines konservatives Wesen ist, das Leuten eine Waffe an den Kopf hält, weil sie zur Schule gehen. Diese Terroristen missbrauchen den Islam für ihre persönlichen Interessen.“ Sie wolle Bildung gerade für die Kinder der Extremisten, erklärte sie. „Ich hasse nicht einmal die Taliban, die auf mich geschossen haben.“

Aber Malala ruhte sich auch nicht auf dem Status einer Polit-Ikone aus. Sie scheute sich nicht, in der zweiten Reihe bei anderen Konflikten zu helfen und kontroverse Positionen einzunehmen. Sie reiste nach Nigeria, als die islamistische Terrorsekte Boko Haram dort mehr als 200 Schulmädchen entführt hatte, und forderte Präsident Goodluck Jonathan unmissverständlich dazu auf, deren Eltern zu empfangen. Während der Westen schon lange Suchteams und Terrorexperten vor Ort hatte, war es Malalas Appell, der in Nigeria die Politik und die Familien nach Monaten des Wartens zusammenbrachte.

Malala ist darum mehr als nur ein spannendes Einzelschicksal. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Betroffene im Zeitalter des Terrors aus der Rolle des passiven Medienphänomens ausbrechen können. Und dass sie weit mehr sein können als nur Opfer.