Nicht nur in Schottland, das am 18. September über seine Loslösung von Großbritannien entscheidet, wird der Ruf nach Unabhängigkeit in Europa lauter. Auch viele andere Regionen fordern mehr Souveränität.

Seine kulturelle Vielfalt macht den eigentlichen Reichtum des Kontinents Europa aus. Von Schweden bis Sizilien, von Grönland bis Russland unterscheiden sich Mentalitäten und Kulturen zum Teil ganz erheblich. Allein in der Europäischen Union haben sich 28 Staaten mit einer halben Milliarde Menschen friedlich und demokratisch zusammengeschlossen – ein einzigartiges Projekt nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt.

Doch der Kontinent ist dem Druck zu einem noch engeren Zusammenschluss und politischen Fliehkräften zugleich ausgesetzt. Etliche Regionen, die derzeit noch Teil eines Staates sind, streben die Unabhängigkeit an. Manchmal geht dieser Prozess einen allmählichen Weg durch die dafür nötigen zivilisatorischen Instanzen. In Schottland etwa soll am 18. September ein Referendum entscheiden, ob das Land, das seit 1707 eine Union mit England bildet, künftig seinen eigenen Weg geht.

Manchmal jedoch explodiert der Wunsch nach Sezession in blutiger Gewalt, wie derzeit in der Ostukraine. Auch die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien stand am Ende eines Krieges. Von außen betrachtet also wird Europa, wird vor allem die EU, immer größer, im inneren Gefüge jedoch wird der Kontinent immer kleinteiliger. Der Wunsch nach Unabhängigkeit findet sich in allen Teilen Europas, unabhängig von Kultur und Geschichte.

Grönland verfügt über Bodenschätze – darunter die begehrten Seltenen Erden

Auch die größte Insel der Welt, die zugleich die drittgrößte Wüste bildet – Grönland nämlich –, ist ein Teil Europas, der langfristig unabhängig werden will. Und Grönland ist zwar autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark und schon seit 1953 keine Kolonie mehr, aber im Gegensatz zum Mutterland nicht mehr Mitglied der EU und kann seit sechs Jahren bereits eine eigene Außenpolitik betreiben.

Die Grönländer hatten sich 1985 in einem Volksentscheid für den Austritt ausgesprochen. Bislang hängt die Insel aber stark am Tropf dänischer Subventionen, der Fischfang allein kann sie nicht mehr ernähren. Doch Grönland verfügt über reiche Bodenschätze, darunter Zink, Eisen und Seltene Erden; die China so dringend benötigt. Vor der Küste werden reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet und wurden teilweise schon geortet; 2012 haben internationale Ölgesellschaften mehr als eine Milliarde Dollar für Suchbohrungen ausgegeben. Grönlands Ausgangslage für eine Unabhängigkeit ist allerdings nicht die beste: Die Insel hat massive soziale Probleme; Trunksucht, verbreiteter Kindesmissbrauch, Unterernährung bei Kindern, mangelnde Schulbildung und eine der höchsten Selbstmordraten der Erde gehören dazu. Zudem leben nur knapp 57.000 Grönländer auf einem Gebiet, das rund sechsmal so groß ist wie Deutschland.

Ähnlich friedlich und geduldig wie die Grönländer verfolgen auch die Katalanen ihr Ziel einer Unabhängigkeit. Doch ihre Ausgangslage ist eine ganz andere. Katalonien mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern ist die wirtschaftsstärkste Region Spaniens, das gerade sehr dynamisch aus der Krise kommt. Die Katalanen haben es satt, dass sie zugunsten der schwächeren Regionen wie Andalusien und Galicien satte Abgaben zahlen müssen. Nach einer Umfrage der Regionalregierung sind inzwischen 74 Prozent der Katalanen für die Gründung eines eigenen Staates. Und die Parteien, die für ein entsprechendes Referendum sind, haben eine Zweidrittelmehrheit im Regionalparlament.

2006 hatte sich Katalonien in einem Autonomiestatut bereits als „Nation“ bezeichnet. Am 11. September vergangenen Jahres, am Nationalfeiertag, bildeten 1,6 Millionen Katalanen die „via catalana“ – eine 480 Kilometer lange Menschenkette als Signal für die angestrebte Unabhängigkeit. Daraufhin regte der spanische Europaparlamentarier und Vizepräsident des EU-Parlaments, Alejo Vidal-Quadras von der Europäischen Volkspartei, in einem Interview an, im Fall einer katalonischen Unabhängigkeitserklärung Truppen zu entsenden und das Kriegsrecht zu verhängen. Zehntausende E-Mails erzürnter EU-Bürger erreichten EU-Parlamentschef Martin Schulz in Brüssel.

Im ebenfalls spanischen Baskenland mit seinen 2,2 Millionen Menschen verlief der Kampf um die Unabhängigkeit alles andere als friedfertig. Ein halbes Jahrhundert lang tobte der Terror der baskischen Separatistenorganisation ETA – ein Akronym für die Worte „Baskenland und Freiheit“. Sie tötete zwischen 1959 und 2009 bei mehr als 4000 Attentaten 823 Menschen; zunächst vor allem in Gegnerschaft des rechten Franco-Regimes in Madrid, dann auch als Feind gewählter spanischer Zivilregierungen, die bereits ab 1980 die baskische Sprache wieder staatlich förderten. Im November 2011 erklärte sich die ETA zu einem Gewaltverzicht bereit. Die Regierung in Madrid lehnt allerdings einen Friedensschluss mit den Terroristen ab und besteht auf einer vollständigen Abgabe der Waffen. Im Baskenland regieren gemäßigte Nationalisten, die zunächst die Bewältigung der schweren Wirtschaftskrise in den Vordergrund stellten. Für 2015 streben sie jedoch ein Referendum über eine Unabhängigkeit an. Die Basken tragen rund sechs Prozent zum spanischen Bruttoinlandsprodukt bei.

Im Königreich Belgien, das 1830 durch die Abspaltung der Niederlande entstanden war, schwelt der Konflikt zwischen den Niederländisch und den Französisch sprechenden Bevölkerungsteilen, den Flamen und Wallonen, schon seit 100 Jahren. Jüngste Regierungskrisen haben den Streit verschärft, diverse Interessengruppen halten den Fortstand des belgischen Staates für unvorteilhaft und propagieren wahlweise eine völlige Unabhängigkeit beider Landesteile oder auch, sie den jeweiligen Nachbarstaaten zuzuschlagen.

Dabei ist in fünf Strukturreformen seit dem Zweiten Weltkrieg bereits eine starke Föderalisierung erzielt worden. Der Konflikt geht um Geld, um Sprache, kulturelle Identität und am Ende natürlich um Macht. War die Wallonie in früheren Zeit wirtschaftlich stärker, so ist Flandern längst vorbeigezogen und erwirtschaftet ein erheblich höheres Sozialprodukt. Die 6,3 Millionen Flamen wollen die schwache Wallonie nicht länger mit Transferzahlungen unterstützen. Daher sind es fast ausschließlich flämische Gruppen, die eine Unabhängigkeit propagieren. Rechte Parteien wie Vlaams Belang wollen einen Staat Flandern, gemäßigte Nationalisten wie die N-VA zunächst eine Konföderation. Für den flämischen Nationalisten Bart de Wever, Bürgermeister der reichen Stadt Antwerpen, ist der Staat Belgien eine „gescheiterte Nation“. Und die EU, die ohnehin alles supranational regele, mache Belgien als Staat überflüssig.

Den Euro für Italiens reichen Norden. Der Süden soll wieder die Lira haben

Auch viele Menschen in Norditalien haben es satt, Geld an den ärmeren Süden zu überweisen. Umberto Bossi, der inzwischen pensionierte Gründerchef der separatistischen Lega Nord, wollte aus den reichen Regionen Ligurien, Lombardei, Venetien, Friaul, Piemont, Emilia-Romagna und Trentino/Südtirol einen Staat „Padanien“ schmieden. Sein Nachfolger Roberto Maroni, früher Innenminister in Rom, ist zunächst für einen monetären Separatismus: Den Euro nur für den reichen Norden, die Lira für den armen Süden. Maroni hat angeblich 300 Bürgermeister und mehrere Regionalpräsidenten hinter sich.

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