„Dort tobt ein echter Kampf“: In der Hafenstadt Mariupol und in Donezk wird trotz vereinbarter Waffenruhe weiter geschossen

Kiew/Mariupol. Der vereinbarte Waffenstillstand in der Ostukraine ist am Sonntag einer harten Belastungsprobe unterzogen worden. Sowohl in der Hafenstadt Mariupol als auch in Donezk kam es am Vormittag zu Schusswechseln, bei denen auch schwere Waffen verwendet wurden. In Mariupol am Asowschen Meer wurde eine Frau getötet, mindestens vier weitere Menschen wurden offiziellen Angaben zufolge verletzt. Regierungstruppen und Separatisten warfen sich gegenseitig vor, die Waffenruhe verletzt zu haben.

Am Sonnabendabend hatten der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und sein russischer Kollege Wladimir Putin in einem Telefongespräch noch festgestellt, dass der Waffenstillstand halte. In der Bevölkerung war die Nachricht von einem Ende der Kämpfe mit großer Skepsis aufgenommen worden.

Am Sonntag hörten Reporter anhaltendes Artilleriefeuer unweit des Flughafens von Donezk, den die Regierungstruppen zuvor zurückerobert hatten. Prorussische Separatisten sagten, die Kämpfe konzentrierten sich auf ein Militärgelände in der Nähe des Flughafens. „Hören sie das Geräusch der Waffenstille“, sagte einer der Rebellen. „Dort tobt ein echter Kampf.“

Aus Mariupol wurde berichtet, die getötete 33-jährige Frau sei das erste zivile Todesopfer nach der Vereinbarung der Waffenruhe. In der Hafenstadt war bereits am späten Sonnabend wieder Artilleriefeuer zu hören. Am Sonntagnachmittag war es in beiden Städten wieder ruhig.

Die Konfliktparteien gaben sich gegenseitig die Schuld an den Schießereien. „So weit mir bekannt ist, hält sich die ukrainische Seite nicht an den Waffenstillstand“, sagte der Vize-Ministerpräsident der von den Separatisten ausgerufenen Volksrepublik Donezk, Wladimir Antjufejew. „Wir haben Verwundete an mehreren Stellen, wir halten uns an die Waffenruhe“, fügte er hinzu. Zuvor hatten die Regierungstruppen erklärt, östlich von Mariupol seien sie von den Separatisten mit Artillerie beschossen worden. Ein ukrainischer Soldat sagte, die Russen respektierten die Waffenruhe nicht. „Sie lügen die ganze Zeit, sie haben keine Ehre“, schimpfte er.

Eine Einwohnerin von Donezk äußerte ihren Pessimismus über die Waffenruhe mit den Worten: „Ich weiß nicht, von was für einem Waffenstillstand wir reden, wenn es immer noch Schüsse gibt. Das ist kein Waffenstillstand, das ist nur Theater. Dieser Krieg wird fünf bis neun Jahre weitergehen. Slawen kämpfen gegen Slawen, es kann nichts Schlimmeres geben.“

Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier warnte vor übertriebenen Erwartungen. Die vereinbarte Feuerpause sei „allenfalls ein Anfang vom Ende der Krise“, sagte er der „Bild“. Ob die Waffen dauerhaft schweigen, hänge weiter vom Willen der Regierungen in Moskau und Kiew ab, die großen offenen Fragen politisch zu lösen. Dennoch soll die Ukraine von Nato-Staaten mit Waffen ausgestattet werden. Neben den USA hätten Frankreich, Italien, Polen und Norwegen Lieferungen zugesagt, teilte Poroschenkos Berater Juri Lizenko mit. Aus Oslo kam allerdings umgehend ein Dementi. „Norwegen hat keine Pläne für Waffenlieferungen welcher Art auch immer an die Ukraine“, sagte der Sprecher des norwegischen Verteidigungsministeriums, Lars Gjemble.

Unterdessen drohte Russland für den Fall weiterer EU-Sanktionen Gegenmaßnahmen an. „Wenn sie (die Sanktionen) umgesetzt werden, wird es natürlich eine Reaktion von unserer Seite geben“, erklärte das Außenministerium in Moskau. Die EU-Botschafter hatten sich auf eine Verschärfung der Strafmaßnahmen gegen Russland verständigt. In Kraft treten sollen sie allerdings erst zu Beginn der Woche.

Die EU erklärte zudem, die zusätzlichen Strafmaßnahmen könnten ausgesetzt werden, wenn Russland seine Soldaten aus der Ostukraine abziehe und die Waffenruhe halte. Den Vorwurf, Russland habe mit eigenen Truppen in den Kampf im Osten der Ukraine eingegriffen, hatte Poroschenko erhoben. Die Regierung in Moskau hat solche Berichte immer wieder dementiert. Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatten vergangene Woche erklärt, sie hätten keine Hinweise auf reguläre russische Truppen in der Ukraine.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft in einem neuen Bericht den ukrainischen Truppen ebenso wie den Separatisten vor, Kriegsverbrechen zu begehen. Außerdem zeigten die jüngsten Erkenntnisse aus dem Kampfgebiet sowie Satellitenaufnahmen, dass Russland den Konflikt mit einer Unterstützung der Separatisten und direkter Einflussnahme anheize. Russland müsse diese Unterstützung beenden, forderte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty. Russland bestreitet die Entsendung von Truppen und die Bewaffnung der Rebellen.

Gegen den Protest Russlands beginnen die USA und die ukrainische Marine heute im Schwarzen Meer ein gemeinsames Manöver. Die dreitägige Übung Sea Breeze 2014 im nordwestlichen Teil des Meeres ist Teil eines bilateralen Kooperationsprogramms. An dem Manöver nehmen auch Kanada, Rumänien, Spanien und die Türkei teil.

Russland hatte Manöver nahe dem Krisengebiet als „völlig unpassend“ kritisiert. Die Führung in Moskau verlegte den russischen Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“ (Moskau) ins Mittelmeer. Das Schiff der Schwarzmeerflotte durchquerte am Sonntagmorgen den Bosporus in der türkischen Metropole Istanbul.