Radikale Palästinenser lagern in den Stollen Raketen und überwinden durch sie die Grenze. Eine Lösung ist nicht in Sicht

Jerusalem. Das israelische Militär nennt es den „tiefergelegten Gazastreifen“: das umfassende Tunnelsystem, mit dem die radikalislamische Hamas die seit 2007 geltende Blockade ihres winzigen Herrschaftsgebiets zwischen der Mittelmeerküste und Israel im wahrsten Sinne des Wortes untergraben hat.

Lange hat Israel die komplexen und betonverstärkten Stollen unterschätzt. Jetzt rennt die Armee schon seit einer Woche mit Panzern und Bulldozern gegen sie an: Tunnel zerstören, die dort gelagerten Arsenale vernichten, die Gefahr für Israel ausschalten, heißen die Ziele der Bodenoffensive. 31 Tunnel wurden bereits entdeckt. Doch die Bedrohung auszuschalten, ist alles andere als einfach. Selbst der aktuelle Vorschlag für eine Feuerpause sieht vor, dass Israel während dieser Zeit weiter Tunnel zerstören darf. Und eine langfristige Lösung für das Problem fehlt, räumen selbst israelische Experten ein.

„Israel wusste, dass es ein Problem mit den Tunneln gab, aber es hat sich ihre Bedeutung nicht voll bewusst gemacht“, sagt der pensionierte israelische General Schlomo Brom. „Zu jedem beliebigen Zeitpunkt könnte die Hamas Dutzende Extremisten durch verschiedene Tunnel schicken und israelische Gemeinden angreifen.“ Das Prinzip erprobten militante Palästinenser bereits 2006 bei der Entführung des Soldaten Gilad Schalit. Damals buddelten sich die Täter unter der Grenze durch bis zu einem israelischen Militärlager. Den verschleppten Schalit hielten sie fünf Jahre in ihrer Gewalt, bis er 2011 gegen 1000 Palästinenser ausgetauscht wurde.

Seit Beginn der israelischen Blockade des Gazastreifens 2007 ging es dann richtig los mit dem Tunnelbau – in zwei Richtungen: nach Ägypten im Südwesten und nach Israel selbst im Osten des Gazastreifens. Vor allem über die Verbindungen nach Ägypten kam alles in den Gazastreifen, was Israel fernhalten beziehungsweise nur unter strenger Kontrolle in das Palästinensergebiet lassen will: Baumaterial, Treibstoff, Verbrauchsgüter, Vieh, Autos – und Waffen aller Art.

So sollen auch Teile des riesigen Raketenarsenals geliefert worden sein, das die Hamas abfeuert. Mehr als 2000 Geschosse regneten seit dem 8. Juli über Städten wie Aschkelon und Aschdod, aber auch über Jerusalem und Tel Aviv nieder. Als Hauptlieferant galt in den vergangenen Jahren der Iran.

Die Hamas verdiente an dem schwunghaften Handel mit, denn sie erhob Zoll auf die über Ägypten kommende Schmuggelware. Doch seit einem Jahr ist es damit vorbei: Das nicht mehr von Islamisten, sondern vom ehemaligen General Abdel-Fattah al-Sisi regierte Ägypten zerstörte die Tunnel systematisch. Die folgende Finanzkrise der Hamas gilt als einer der Hintergründe für die jüngste Zuspitzung.

Unabhängig von den Tunneln nach Ägypten baute die Hamas nach einer israelischen Bodenoffensive 2009 auch ihre unterirdischen Verbindungen unter der Grenze nach Israel aus. Mehrere hohe Vertreter der Palästinenserorganisation bestätigen, dass dies Teil eines militärischen Taktikwechsels war. Gleichzeitig habe die Hamas ihr Arsenal panzerbrechender Waffen ausgebaut und viele Raketenwerfer und Raketenlager unter die Erde verlegt.

Öffentlich brüstete sich Hamas-Führer Ismail Hanija vor Kurzem: „Tausende Widerstandskämpfer arbeiten unterirdisch und Tausende weitere überirdisch, um sich für die bevorstehende Schlacht vorzubereiten. Niemand kann sich vorstellen, zu welchen Taten der Widerstand bereit ist, um sich den Besatzern entgegenzustellen.“ Seit Anfang Juli gab es nach Angaben des israelischen Militärs mehrere Versuche militanter Palästinenser, durch die Tunnel auf israelisches Territorium zu gelangen. Mehrfach wurden Bilder veröffentlicht, wie mit Raketenwerfern und Maschinengewehren bewaffnete Männer in den Büschen hocken, bereit zur Attacke auf Israelis. Einige dieser Kämpfer wurden getötet, bei ihnen wurden laut Militär Betäubungsmittel und Handschellen gefunden – Indizien, dass sie „die Absicht hatten Israelis zu verschleppen“, wie das Militär schließt.

„Die Hamas hat terroristische Tunnel unter Kliniken, Moscheen, Schulen, Häusern gegraben, um auf unser Territorium einzudringen, um Israelis zu kidnappen und zu töten“, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu diese Woche. „Angesichts solchen offenkundigen Terrorismus' könnte kein Land stillhalten und einfach abwarten.“ Viele Israelis sehen das genauso – die Bilder der Eindringlinge haben Schockwellen durchs Land geschickt. Die ohnehin deutliche Unterstützung für die Bodenoffensive wurde dadurch noch gestärkt.

Nach der Bodenoffensive müsse man sich etwas Grundsätzliches überlegen, sagt Ex-General Brom, der nun für das Institute for National Security Studies tätig ist. Auch Atai Schelach, ein Ex-Kommandeur der Pioniereinheit Jahalom, glaubt, dass das Zerstören einzelner Tunnel nicht reicht. Wie man das Problem lösen könnte, ist allerdings unklar. Ein tiefer, mit Abwasser gefüllter Grenzkanal wäre teuer und technisch sehr schwierig. Akustische Aufspürtechniken sind nicht hundertprozentig zuverlässig. Israel brauche einen Durchbruch wie beim Abwehrschild „Iron Dome“ gegen die Raketenangriffe, meint Schelach. „Es ist keine Frage des Geldes oder der Ressourcen. Es muss nur zur nationalen Priorität erklärt werden.“