Beim Gipfeltreffen in Brüssel entscheiden sich 26 Staats- und Regierungschefs für den Luxemburger – der Brite Cameron und der Ungar Orban nicht

Brüssel. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy wählte eine Twitter-Nachricht, um Europa noch aus dem Sitzungssaal in Brüssel zu informieren: „Entscheidung gefallen. Der Europäische Rat nominiert Jean-Claude Juncker als Präsidenten der nächsten EU-Kommission“, schrieb er. Juncker, der 59 Jahre alte ehemalige Premierminister von Luxemburg, kann nun ganz entspannt auf seine Wahl im Europaparlament warten, die für Mitte Juli geplant ist: Dort ist ihm eine Mehrheit viel sicherer, als sie noch bis vor Kurzem in der Runde der 28 Staats- und Regierungschefs war.

Eine wochenlange und teils erbittert geführte Debatte über Junckers Nominierung ging damit zu Ende. Auch wenn sich spätestens in dieser Woche fast alle Juncker-Skeptiker zu Unterstützern wandelten: Einer „kämpfte bis zum Schluss“, wie er selbst angekündigt hatte. Großbritanniens Premierminister twitterte ebenfalls. Die Entscheidung für Juncker werde seinen Kollegen „womöglich noch zu Lebzeiten leidtun“. Später sagte er: „Das ist ein schlechter Tag für Europa.“ Die Entscheidung für Juncker „riskiert die Position der nationalen Regierungen zu untergraben“.

Nur Cameron und der Ungar Viktor Orban hatten gegen Juncker votiert – und waren überstimmt worden. Der Brite hält Juncker für die falsche Wahl, und das machte er auf dem Gipfel noch einmal deutlich. So sollte am Vorabend eigentlich ein schönes Essen stattfinden, nach einem gemeinsamen Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs im belgischen Ypern. Aber das Dinner der 28 Staats- und Regierungschefs endete viel früher als geplant, richtig gemütlich soll es auch nicht gewesen sein. „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Europäischen Rat und einer Fahrradtour …“, rief Großbritanniens Premierminister David Cameron Touristen vor dem Essen zu. Er wolle „harte Diskussionen“ über Junckers Nominierung führen, sagte er.

Am Freitagmorgen hatte Cameron seine Bedenken gegen Juncker öffentlich wiederholt. Der Luxemburger sei die „falsche Person“ für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Juncker habe in seinem ganzen Arbeitsleben entscheidend dafür gesorgt, „die Macht Brüssels zu stärken und die Macht der Mitgliedstaaten zu verringern“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte unterdessen, dass man notfalls über Juncker nicht im Konsens entscheiden werde, sondern auch gegen den Willen Camerons, in einer – sehr ungewöhnlichen – formalen Abstimmung. Die „Chefs“ wollen nun also dem EU-Parlament Juncker zur Wahl als Kommissionschef vorschlagen, wo sich die beiden größten Fraktionen, Christ- und Sozialdemokraten, bereits für Juncker ausgesprochen haben. Merkel sagte auch, man wolle Cameron, der zu Hause unter dem massiven Druck europafeindlicher Kräfte steht, nun bei inhaltlichen Fragen „ein Stück“ entgegenkommen.

Und auch nach Junckers Nominierung ging Merkel auf den Briten zu: Über das künftige Verfahren zur Nominierung eines Kommissionspräsidenten könne man noch einmal diskutieren, sagte sie, und: Die Sorgen Londons müssten aufgenommen werden. „Wie sich das beim nächsten Mal genau ausgestaltet, darüber möchte ich heute nicht spekulieren“, so Merkel. Klar sei, dass die geltenden Verträge eingehalten werden. Im Lissabon-Vertrag heißt es, die Staats- und Regierungschefs müssten bei der Benennung des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahl berücksichtigen. Von Spitzenkandidaten für das Amt ist in dem Vertrag nicht die Rede.

Cameron sagte nach seiner Niederlage, er hoffe auf eine weitere Reform der EU. „Es verdoppelt meinen Glauben daran, dass dieser Ort reformiert werden muss“, sagte Cameron am Ende des Gipfels. „Es wird viele Schlachten geben. Einige werden gut laufen, andere weniger. Aber das Wesentliche ist: Wir haben den Schneid, das durchzustehen.“ Cameron beklagte zwar, einige Staats- und Regierungschefs hätten in der Personalie Juncker ihre Meinung verändert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte er aber nicht unmittelbar angreifen: „Natürlich sind wir heute auf entgegengesetzten Seiten, und das ist Grund für Bedauern. Das passiert manchmal.“ Er habe aber bei anderen Gelegenheiten mit ihr gut zusammengearbeitet.

Auseinandersetzungen gab es auch in anderen Fragen: So lieferten sich Merkel und Italiens Premierminister Matteo Renzi laut der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ einen kleinen Schlagabtausch zum EU-Stabilitätspakt. Merkel will ihn belassen, wie er ist, Renzi sähe ihn lieber ein wenig lockerer ausgelegt. In der Nacht zu Freitag feilten die mitgereisten Beamten aus den EU-Hauptstädten an einem Formelkompromiss für die Abschlusserklärung. Frankreich und Italien fordern, öffentliche Investitionen für Wachstum aus der Defizitberechnung herauszuhalten, Berlin lehnt das ab.

In der Abschlusserklärung des Gipfels heißt es nun, die im Stabilitätspakt eingebaute Flexibilität solle „bestens“ genutzt werden. Was das genau heißt, wird sich zeigen. Aber es zeichnet sich ab, dass die EU-Kommission Italien im Jahr 2015 wahrscheinlich bei der Nutzung von Mitteln aus den milliardenschweren Strukturfonds entgegenkommen wird. Die strengen Haushalts- und Förderregeln werden etwas aufgeweicht – in der Hoffnung, damit Wachstum zu fördern.