Der russische Präsident muss die Separatisten weiter unterstützen, aber gleichzeitig eine Eskalation der Lage verhindern. Einen Rüstungswettlauf mit dem Westen kann sich Putin nicht leisten.

Hamburg. Der ehrgeizige Friedensplan des frisch gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko schien bereits nach wenigen Stunden gescheitert zu sein: Die am Freitag von Poroschenko ausgerufene einseitige Waffenruhe wurde gleich mehrfach gebrochen, es kam am Wochenende wieder zu heftigen Kämpfen in der Ost-Ukraine zwischen prorussischen Separatisten und Einheiten der ukrainischen Armee. Die Interessenlagen in diesem Dauerkonflikt zerfasern zusehends und erschweren die Suche nach einer politischen Lösung.

Es wird geschätzt, dass bei den jüngsten Kämpfen bislang rund 300 Menschen ums Leben gekommen und rund 35.000 Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen sind. Der russische Präsident Wladimir Putin, der für diese Entwicklung die Hauptverantwortung trägt, bewegt sich auf dünnem Eis. Mit der Annexion der Krim hat sich Putin im eigenen Land als entschlossener Sachwalter russischer Interessen empfohlen; seiner Popularität hat dies noch einmal mächtig Auftrieb verschafft. Doch nun übt sich der russische Präsident in einem zirkusreifen Spagat. Zum einen muss er dem eigenen Volk weiter den starken Mann verkaufen, der die Ukraine nicht in die Hände des Westens fallen lassen will. Zum anderen jedoch muss er höllisch aufpassen, dass der Konflikt nicht außer Kontrolle gerät. Die radikalen prorussischen Separatisten verlangen von Moskau eine aktive militärische Unterstützung gegen die ukrainische Armee, die von Poroschenko weitaus entschlossener eingesetzt wird als von der Kiewer Führung zuvor.

Schon gibt es massive Kritik der Rebellen an Putin, die unter starken militärischen Druck geraten sind. Igor Strelkow, Kommandeur der Separatisten in der „Volksrepublik Donezk“ sprach in diesem Zusammenhang von „offener Sabotage“ hoher russischer Beamter in Moskau. Wenn Russland militärisch nicht eingreife, würden die Rebellen „früher oder später zerquetscht“, sagte Strelkow.

Putin weiß aus Umfragen, dass die Mehrheit der Russen einen Einmarsch in die Ukraine ablehnt. Der russische Präsident hat zwar eine militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine aufgebaut. Doch die bis zu 40.000 Soldaten im Nachbarland einzusetzen würde den Konflikt schlagartig auf eine weitaus höhere Eskalationsebene katapultieren. Zwar wird in Analysen gern darauf hingewiesen, dass Putin Reaktionen des Westens wie finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen von vornherein einkalkuliert habe. Doch die bislang verhängten Strafmaßnahmen und die Aussicht auf weitere sind für ihn gar nicht so unerheblich, wie er tut.

Russland kann sich Rüstungswettlauf nicht leisten

Russlands Wirtschaft ist in einer Phase der Stagnation. Sollten die Sanktionen auf den Alltag der Russen durchschlagen, dürfte dies Putins politisches Kalkül erheblich durcheinanderbringen. Zudem hat sein rüdes Vorgehen in der Ukraine die Nato aus einer Art Dämmerschlaf geweckt. Es werden in Brüssel inzwischen offen Aufrüstungsmaßnahmen diskutiert. Einen Rüstungswettlauf mit dem Westen als mögliche Folge einer dramatischen Eskalation der Ukraine-Krise kann sich Russland nicht leisten. Putin dürfte zunächst daran interessiert sein, seine Beute – die Krim – politisch abzusichern und die Ukraine so weit zu destabilisieren, dass sie keine Gefahr für ihn darstellt. Diese Gefahr liegt vor allem darin, dass sich die Ukraine auf demokratischem Wege politisch konsolidiert und sich dann dem Westen anschließt. Putin muss also die prorussischen Rebellen bei Laune halten – was er offenbar mit großzügigen Waffenlieferungen tut –, aber zugleich verhindern, dass sie einen Großkonflikt auslösen. Falls die ukrainische Armee die prorussischen Elemente blutig niederschlägt und womöglich eine erhebliche Zahl an Zivilisten dabei ums Leben kommt, müsste Putin grenzüberschreitend eingreifen, um russische Interessen und sein politisches Gesicht zu wahren. Putin hat bereits die Krim gewonnen und die Ukraine daran gehindert, Mitglied der Nato werden zu wollen. Das ihm zunächst unterstellte weitere Ziel – die Einnahme zumindest der östlichen, wenn nicht gar der gesamten Ukraine – scheint zurzeit nicht auf der Kreml-Agenda zu stehen. Die Risiken sind einfach zu groß.

Allerdings sendet Putin mit der Veranstaltung eines Großmanövers zwischen Westsibirien und der Wolga mit 65.000 Soldaten ein Warnsignal an die Nato, sich herauszuhalten. Zugleich versucht er, die militärische Position der prorussischen Rebellen zu erleichtern. Deren destruktive Wühlarbeit soll aus Sicht des Kreml möglichst weitergehen können. So erklärt sich die Ablehnung von Poroschenkos Friedensplan durch Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow. Dieser sagte, der Plan sei im Ton eines Ultimatums verfasst und enthalte keine Aufforderung zum Dialog. Das ist auch etwas viel verlangt – immerhin geht es den Rebellen darum, die territoriale Integrität der Ukraine zu zerschlagen. Und die steht nach einer Erklärung von Poroschenko keinesfalls zur Disposition. Er hat immerhin denjenigen, die „irrtümlich separatische Positionen vertreten“ hätten, Gespräche angeboten.

Putin selbst sendete am Sonntag auch versöhnliche Signale: Er sprach sich für eine Kompromisslösung aus. Diese müsse die Rechte der russischsprachigen Einwohner so garantieren, dass sie sich wie ein „integraler Bestandteil“ ihres eigenen Landes fühlten, sagte er. Diese Worte legen nach Meinung von Beobachtern nahe, dass es keine Abspaltung ostukrainischer Gebiete geben soll.