In Peking will Präsident Wladimir Putin Europa demonstrieren, wie Moskau sich künftig Asien zuwendet

Moskau. Wenn Gazprom-Chef Alexej Miller in den vergangenen Jahren Albträume hatte, dann möglicherweise von Zielgeraden. Den Abschluss des Langstreckenlaufs zwar in Sichtweite und dennoch keinen Meter weiter. Marathon auf chinesische Art, auch wenn er nur dazu dienen sollte, die Russen zu erschöpfen. Zehn Jahre nämlich liefen sie den Chinesen hinterher, um die Unterschrift unter einen epochalen Großvertrag für Gaslieferungen zu bekommen und wurden mit lockenden Versprechungen aus dem Reich der Mitte bei der Stange gehalten. Heute oder morgen aber, wenn Kremlchef Wladimir Putin auf Staatsbesuch in China ist, könnte es so weit sein.

Es wäre ein Symbolakt, dessen Bedeutung für Russland unschätzbar wäre. „Wir können auch anders und uns Asien zuwenden“, lautet die Botschaft, die Moskau derzeit an den Westen aussenden möchte. Gewiss, sie ist nicht ganz neu und wird seit den ersten Gaskonflikten mit der Ukraine 2006 und den Verstimmungen mit Europa regelmäßig wiederholt. Angesichts der westlichen Sanktionen gegen Russland will Moskau nun Nägel mit Köpfen machen. „Man ist heute zu einem hohen Grad bereit, um zu einer endgültigen Vereinbarung zu gelangen“, sagte Russlands Energieminister Alexander Nowak vor Kurzem über den Gasvertrag.

Am Sonntag reiste Miller nochmals nach Peking. Die Eckdaten sind ausverhandelt: 38 Milliarden Kubikmeter Gas (etwa 40 Prozent des deutschen Jahresverbrauchs) sollten jährlich nach China fließen. Selbst die Preisformel steht fest. Nur der Basispreis, von dem aus berechnet wird, blieb bis zuletzt umstritten, sodass der Deal noch nicht unter Dach und Fach ist. Schon längst stand fest, dass Gazprom in China nicht den Preis erhalten würde, den Europa zahlt, wo Gazprom bis heute 75 Prozent seines Umsatzes generiert und im Schnitt 380 Dollar je 1000 Kubikmeter bekommt. Angesichts der Verwerfungen zwischen Russland und Europa hat sich Gazproms Verhandlungssituation in China weiter verschlechtert. „China ist neben den USA der einzige Gewinner der Ukraine-Krise und des Konflikts zwischen Europa und Russland“, sagt ein hochrangiger Manager eines westlichen Gaskonzerns. Alle Vereinbarungen mit Russland würden nun schneller und zu Bedingungen abgeschlossen, die für China noch vorteilhafter als zuvor seien, wird Vasili Kaschin vom Moskauer Zentrum für Strategie- und Technologieanalyse in der Wirtschaftszeitung „Wedomosti“ zitiert.

Niemand zweifelt daran, dass Russland das Potenzial in China und anderen asiatischen Staaten stärker wird nutzen wollen und müssen. Dies aber als Gegenentwurf und Alternative zum wirtschaftlichen Austausch mit Europa zu propagieren, bezeichnen Experten als Illusion. Von „beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten“ spricht etwa Wladimir Zujew, Professor für Handel auf der Moskauer Higher School of Economics. China könne nur einen Teil des russischen Imports – und zwar den technologisch minderwertigeren – aus Europa ersetzen. Und bei den russischen Exporten, die vorwiegend aus dem Rohstoffsektor stammen, komme vor allem bei Gas das Problem der mangelnden Infrastruktur hinzu.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Handelsaustausch mehr als verdoppelt und im Vorjahr einen Wert von 89 Milliarden Dollar erreicht. Damit ist China mittlerweile zu Russlands größtem Handelspartner noch vor Deutschland aufgestiegen. Nimmt man freilich die Europäische Union als Ganzes, so handelt sie fast fünf Mal so viel mit Russland wie China. Mehr als die Hälfte des russischen Außenhandels kommt auf die EU. Bis 2015 werde man versuchen, den Handel mit China auf 100 Milliarden Dollar zu erhöhen, bis 2020 dann auf 200 Milliarden Dollar, sagte Putin im Interview mit chinesischen Medien. Der Kremlchef hat für seine Wirtschaftsdelegation, die ihn nach China begleitet, zusammengetrommelt, was in der russischen Wirtschaft Rang und Namen hat. 43 Vereinbarungen sind vorbereitet, 30 werden unterzeichnet, so sein Berater Juri Uschakow. Für den Fall, dass es nicht zum Abschluss des Gasvertrags kommt, sollte wenigstens in den anderen Sektoren zutage treten, dass ein neues Zeitalter der Enteuropäisierung und Asiatisierung Russlands beginnt.

Der Kreml betonte etwa, dass man sich mit China im Flugzeugbau zusammentut und auch die Produktion eines russischen Schwerhelikopters vom Typ Mi-26 in der Volksrepublik anvisiert. Nicht zu Unrecht kursierte im Russland der vergangenen Jahre die Befürchtung, zum Rohstoffanhängsel des bevölkerungsreichen Nachbarn degradiert zu werden. Dies umso mehr, als China seinen nördlichen Nachbarn auch politisch nicht als ebenbürtigen Partner sieht. Zwar machte China wiederholt den Anschein, in geopolitischen Fragen und in der Ablehnung des westlichen Wertekanons mit Russland übereinzustimmen. Aber gerade in der Frage der Abspaltung der Krim war China mit Moskau nicht mehr einer Meinung. Und in Russland selbst hat sich die traditionelle Furcht vor einer Expansion der Chinesen in Sibirien nicht gelegt. Nicht zufällig forciert Russland Programme zur Entwicklung seines östlichen Landesteiles. Er ist bedeutend größer als der westliche Landesteil, der bis zum Uralgebirge reicht.

Der Rohstoffexport bleibt auf absehbare Zeit der tragende Faktor in Russlands Wirtschaftsbeziehungen zu China. Zwar bekommt Gazprom bislang keinen Fuß auf chinesischen Boden. Aber Russlands größter und staatlicher Ölkonzern Rosneft lebt auf weite Strecken von der Volksrepublik. 2013 wurden 15,753 Millionen Tonnen nach China verkauft – entsprechend dem Vertrag von 2009 über langfristige Lieferungen im Ausmaß von 300 Millionen Tonnen. Im Juni des Vorjahres kam ein zweiter Vertrag hinzu – und zwar zur Lieferung von 365 Millionen Tonnen im Laufe von 25 Jahren. Gesamtsumme: 270 Milliarden Dollar. Rosneft hat ein Modell etabliert, das auch für Gazprom diskutiert wird: Vorauszahlungen seitens Chinas. Das Geld hat Rosneft zuletzt dringend gebraucht, um den Kauf von Russlands drittgrößtem Ölkonzern TNK-BP zu stemmen. Schon vor knapp einem Jahrzehnt hatten die Chinesen finanziell ausgeholfen – und zwar als Rosneft den Ölkonzern Yukos des damals verhafteten Oligarchen Michail Chodorkowski kaufte und damit den Aufstieg zum größten Ölkonzern begann. Es gebe eine stille Vereinbarung mit China, dass Rosneft die jetzigen Vorauszahlungen für Investitionen in neue Lagerstätten im Osten Russlands und für den Bau der entsprechenden Infrastruktur nutze, erklärte kürzlich Sergej Sanakojev von der Russisch-Chinesischen Handelskammer.

Rosneft hat die Nase vorn. Und Gazprom könnte alsbald nachziehen. Die anderen Verträge, die nun in China unterzeichnet werden, liefern immerhin die Begleitmusik am Beginn einer neuen Ära, die Moskau ausgerufen hat, um die Entfremdung mit dem Westen zu untermauern. Den Ton freilich gibt China an.