Interimspräsident Turtschinow befürchtet einen Flächenbrand in der Ex-Sowjetrepublik. Der Präsidentenwahl am 25. Mai droht ein Chaos.

Kiew/Moskau. Trotz einer „Anti-Terror-Operation“ in der Ostukraine weiten die prorussischen Separatisten ihren Einfluss aus. Die von der EU und den USA unterstützte Regierung in Kiew räumt ein, die Befehlsgewalt über die Sicherheitskräfte im Osten verloren zu haben. Das Schicksal der von Separatisten festgehaltenen OSZE-Beobachter, unter ihnen vier Deutsche, bleibt ungewiss. Unmittelbar vor Beginn ihrer Reise in die USA hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Merkel appellierte an den Kremlchef, seinen Einfluss auf die prorussischen Aktivisten in der Ostukraine geltend zu machen, um die dort festgehaltenen OSZE-Militärbeobachter freizubekommen. Merkel und Putin sprachen auch über die Bedeutung der Wahlen in der Ukraine am 25. Mai, die für die Stabilität des Landes unverzichtbar sind. Nach Darstellung des Kreml hat Präsident Putin in dem Gespräch einen Rückzug der ukrainischen Regierungstruppen aus der Ostukraine, ein Ende der Gewalt und einen nationalen Dialog gefordert. Zur Lage in der Ex-Sowjetrepublik einige Frage und Antworten:

Wie ist die Situation in der Ostukraine?

Die prorussischen Separatisten weiten ihren Einfluss aus. Auch in der Großstadt Lugansk besetzen sie jetzt mehrere öffentliche Gebäude – unter anderem die Gebietsverwaltung. In Donezk haben sie das Gebäude der Staatsanwaltschaft gestürmt. Gewalt sei ausgebrochen, als Demonstranten sich vor dem Gebäude versammelt hätten. Dort hätten sie ihrer Wut auf die Staatsanwälte Luft gemacht und diesen vorgeworfen, für die westlich orientierte Übergangsregierung in Kiew zu arbeiten. Die von den USA und der EU unterstützte ukrainische Regierung wirkt nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch macht- und hilflos. „Heute kontrolliert die Regierung die Lage in Teilen des Gebietes Donezk nicht mehr“, räumt Interimspräsident Alexander Turtschinow ein. Polizei und Geheimdienst würden ihre Pflichten nicht erfüllen und teils mit den Aufständischen zusammenarbeiten, schimpft er.

Läuft der groß angekündigte „Anti-Terror-Einsatz“ ins Leere?

Wegen schlechter Bezahlung, der trüben wirtschaftlichen Ausblicke und einer insgesamt instabilen Lage ist die Moral bei Militär und anderen Sicherheitsstrukturen auf dem Tiefpunkt. Zwar behauptet Turtschinow, dass die Streitkräfte „in voller Kampfbereitschaft“ seien. Doch immer wieder gibt es Berichte von Überläufern ins Lager der Aufständischen. Außerdem droht Russland mit einem Militäreinsatz, sollte die Ukraine erneut Panzer und Geschütze gegen die Aufständischen auffahren.

Was bietet die Regierung ihren Gegnern im Osten und Süden der Ukraine an?

Bisher ist nur sehr vage eine Verfassungsreform angekündigt. Sie soll den Regionen mehr Autonomie bringen und die russische Sprache schützen. Im Gespräch ist, über eine neue Verfassung am 15. Juni abstimmen zu lassen. Die prorussischen Aktivisten sehen sich als Separatisten und Terroristen verunglimpft. Sie haben für den 11. Mai ein Referendum angesetzt – für eine Loslösung der Gebiete Donezk und Lugansk von Kiew. Ein Dialog zwischen Repräsentanten aus Kiew und den prorussischen Wortführern ist nicht in Sicht.

Wie kann in einer solchen Lage die Präsidentenwahl am 25. Mai funktionieren?

In den Gebieten Lugansk und Donezk gilt die Abstimmung als gefährdet. Die prorussischen Kräfte rufen zum Boykott auf. Kandidat Oleg Zarjow, der seine Wählerbasis am ehesten dort hat, zog seine Kandidatur demonstrativ zurück und appelliert an andere Bewerber, ihm zu folgen. Die Zentralregierung kann bislang weder die Sicherheit der Kandidaten noch den reibungslosen Ablauf in den Wahllokalen garantieren. Bei einem Ausfall der bevölkerungsreichen Gebiete wäre die Legitimität des neuen Präsidenten gefährdet.

Warum können die Separatisten so frei agieren?

Die Sicherheitskräfte überlassen ihnen im Grunde widerstandslos das Feld. Viele Milizionäre hatten die monatelange Protestbewegung proeuropäischer Demonstranten in Kiew, die Präsident Viktor Janukowitsch letztlich stürzte, von Anfang an abgelehnt. Die prorussischen Kräfte besetzen deshalb ohne Gegenwehr Gebäude und plündern Waffenkammern. Allerdings beklagen Sicherheitskräfte auch unklare oder fehlende Befehle aus Kiew. Auch Löhne von im Schnitt umgerechnet 200 Euro sind für viele Milizionäre kein Anreiz zum Kämpfen gegen die bisweilen schwer bewaffneten Aufständischen.

Wo lauern neue Gefahren?

Kiew sieht die Gefahr eines Flächenbrandes und will verhindern, dass zum Beispiel in Odessa am Schwarzen Meer oder in Charkow Gebäude besetzt werden. Die vor dem Bankrott stehende Ukraine ist zudem wegen nicht bezahlter milliardenschwerer Gasrechnungen bei Russland verschuldet. Kremlchef Wladimir Putin hat eine Zahlungsfrist bis Anfang Mai gesetzt.

Was hat der Westen bisher an Hilfe geleistet?

Die EU hat die Einfuhrzölle für die Ukraine abgeschafft. Aus Polen, der Slowakei und Ungarn kann das Land zudem Gas 30 Prozent billiger als aus Russland beziehen. Die US-Regierung vergab Kreditgarantien von einer Milliarde US-Dollar. Der Internationale Währungsfonds greift dem Land mit 17 Milliarden US-Dollar unter die Arme.

Wie kompromissbereit sind die Russen in der aktuellen Konfliktlage?

Sie wollen eine Lösung, damit ihre eigene Wirtschaft nicht weiter leidet. Kremlchef Wladimir Putin hat bereits eingeräumt, dass die vom Westen gegen Russland im Ukraine-Konflikt verhängten Sanktionen sich schädlich auf die Wirtschaft auswirken. Die Führung in Moskau kämpft mit Konjunkturproblemen, Kapitalflucht, aufziehender Rezession, Wertverfall des Rubel und mit einem schlechteren Investitionsklima.