Die Nato will keine Bodentruppen nach Osteuropa entsenden. Stattdessen setzt das Verteidigungsbündnis auf dosierten Druck gegenüber Moskau

Brüssel. Große Worte hört man bei der Nato in diesem Tagen. Von einer „Zeitenwende“ sprechen Diplomaten, von der „schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges“. Russlands militärisches Eingreifen in der Ukraine, die Annexion der Krim und die Drohgebärden an der Ostgrenze haben das Nordatlantische Bündnis erschüttert. In „Vor der Ukraine“ und „Nach der Ukraine“ teilt sich die neue Zeitrechnung der Nato – und die Außenminister der Allianz suchten am Dienstag in Brüssel nach gemeinsamen Antworten auf die Krise.

Eine der Antworten lautet: Die Nato setzt ihre praktische Zusammenarbeit mit Russland aus und will ihre militärische Präsenz im Osten des Bündnisgebiets weiter verstärken. Den politischen Dialog mit Moskau im Nato-Russland-Rat will das Bündnis aber fortsetzen. Die Außenminister einigten sich auch darauf, die Ukraine beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen zu unterstützen.

„Russlands aggressives Vorgehen gegen die Ukraine ist die größte Bedrohung für die europäische Sicherheit in dieser Generation“, sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bei dem Außenministertreffen. Er nannte die Ergebnisse eine „Demonstration starker Solidarität“ in der Nato.

Doch „die Ereignisse rund um die Ukraine“, wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) es formulierte, legten auch tiefe Risse im Bündnis offen.

Polens Außenminister Radoslaw Sikorski reiste aus Weimar, wo er zuvor mit Steinmeier und dem französischen Amtskollegen Laurent Fabius konferiert hatte, zunächst mit der Forderung nach der Stationierung von zwei schweren Nato-Brigaden nach Brüssel. Von dieser Forderung rückte er noch auf dem gemeinsamen Flug mit Steinmeier nach Belgien ein wenig ab („Wir wären für alles dankbar“) und forderte wenigstens die vorsorgliche Bereitstellung von Militärmaterial in Polen. Bei der Ankunft in der Nato-Zentrale machte er deutlich, dass seiner Ansicht nach eine Verpflichtung der Nato, keine „substanziellen“ Truppenstationierungen in den östlichen Bündnisländern vorzunehmen, nicht mehr gelten muss.

Sikorski legte offen, was bisher ganz im Verborgenen gemunkelt und von Nato-Diplomaten stets sofort mit lautstarken Bekenntnissen zu einer gemeinsamen Haltung überdeckt worden war. US-Sicherheitsberater Ben Rhodes hatte kurz vor dem Nato-Treffen eine „ständige Präsenz“ von „Land-, Marine und Luftstreitkräften“ in den östlichen Staaten des Bündnisses ins Gespräch gebracht.

Auch Generalsekretär Rasmussen hatte zunächst bei manchen Nato-Diplomaten den Eindruck erweckt, als könne er sich so etwas gut vorstellen. Kurz vor Beginn des Ministertreffens war seine Botschaft jedoch eindeutig. „Ich glaube, alle sehen ein, dass der beste Weg vorwärts ein politischer und diplomatischer Dialog ist“, sagte Rasmussen. Weitere Schritte seien möglich. Aber was er an Beispielen aufzählte, war weit von Bodentruppen entfernt: neue Verteidigungsplanungen und verstärkte Manöver.

Zuvor hatten zahlreiche Nato-Regierungen unmissverständlich klargemacht, wie ihrer Meinung nach die Reaktion auf das russische Ukraine-Abenteuer aussehen müsste: eine Verstärkung der schon seit 2004 bestehenden Luftraumüberwachung über den drei baltischen Staaten einerseits sowie eine nicht militärische Unterstützung der Ukraine andererseits. Letzteres bedeutete: Beratung bei der Umorganisation des Verteidigungsministeriums oder Weiterbildung der ukrainischen Streitkräfte.

Vor allem Frankreich und Deutschland betonten, dass sie zwar zur Verstärkung der Luftüberwachung im Baltikum bereit seien: Steinmeier brachte die Zusage mit, sechs Jagdflugzeuge der Bundesluftwaffe zu entsenden. Aber schon vor dem Treffen hatte Deutschland signalisiert, dass man zur Entsendung von Bodentruppen nicht bereit sei. Und auch Frankreichs Außenminister Fabius, der nach dem deutsch-polnisch-französischen Treffen von Weimar angesichts der heimischen Regierungsumbildung lieber in Paris nach dem Rechten schaute, ließ ausrichten: Die Nato solle sich sehr zurückhalten. Sie dürfe nichts tun, was neue Spannungen schaffen könne.

Die Nato hatte sich 1997 gegenüber Russland verpflichtet, auf die ständige Stationierung „substanzieller Streitkräfte“ in den einstigen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts oder der Sowjetunion zu verzichten. „Ich finde es nicht hilfreich, über die Definition substanzieller Streitkräfte zu diskutieren“, wischte Sikorski dieses Thema beiseite. „Das war eine politische Erklärung vor mehr als 15 Jahren über die damaligen Absichten der Nato. Und natürlich können sich Absichten angesichts von Ereignissen ändern.“

Am Schluss heißt es in einem bewusst vage formulierten Beschluss der Minister, die Militärs sollten prüfen, ob „militärische Mittel“ in den östlichen Ländern des Bündnisses stationiert und verstärkt werden könnten. Die Frage, ob es hier um Soldaten oder um die Lagerung von Militärmaterial gehe, wurde von einem hauptamtlichen Nato-Erklärer mit den Worten „Es bedeutet, was es bedeutet“ beantwortet. Schon zuvor hatten auch US-Diplomaten durchblicken lassen, man könne zumindest die Frage diskutieren, wie verbindlich Nato-Zusagen sein müssten, wenn Russland seine Zusagen nicht einhalte.

Die „Ereignisse rund um die Ukraine“ lassen die Nato-Regierungen nun diskutieren, ob das Bündnis sich mehr um die Abschreckung und damit auch um den militärischen Schutz einzelner Mitglieder kümmern muss. Viele östliche Staaten, neben Polen auch Estland, Lettland und Litauen, sind der Ansicht, dass die Nato sich weniger um politisches Krisenmanagement, sondern mehr um militärische Hardware kümmern sollte. Am Dienstag mussten die geplanten Feiern der diversen „Osterweiterungen“ der Nato erst einmal warten: Die Minister diskutierten deutlich länger als geplant über die Ukraine.