Türkischer Ministerpräsident geht gegen Nachrichtendienst vor – doch Internetnutzer zwitschern weiter. Sogar der Staatspräsident macht mit

Istanbul. Selten hat sich eine Regierung in ihrer Internetpolitik so blamiert. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lässt den Kurznachrichtendienst Twitter verbieten – doch niemand hält sich daran. Im Gegenteil: Die Stunden nach der mitternächtlich verhängten Sperre wurden in der Twitter-süchtigen Türkei zur heitersten Online-Nacht seit Langem.

„Auslöschen“ werde er Twitter, „samt den Wurzeln ausreißen“, und jeder werde dann sehen, „wie mächtig die türkische Republik ist“, hatte Erdogan gesagt. Die Formulierungen machten deutlich, dass Rechtsstaat und Meinungsfreiheit nicht mehr existieren. Denn in einem Rechtsstaat kann die politische „Macht der türkischen Republik“ Twitter nichts anhaben, ein Verbot ist Sache der unabhängigen Justiz, nicht der „Republik“. Und trotz Twitter-Sperre schrieb Staatspräsident Abdullah Gül weiter fleißig Nachrichten: Die Schließung von sozialen Medien sei „inakzeptabel“. Die Sache schien sich damit zu einem Machtkampf zwischen den Spitzen des Staates auszuweiten. Der Präsident hatte kurz davor bereits Erdogans ewiges Gerede einer „Verschwörung dunkler Mächte“ gegen ihn als „Drittwelt-Niveau“ bezeichnet.

Mit Twitter lassen sich bis zu 140 Zeichen lange Kurznachrichten – Tweets genannt – verschicken, an die Bilder, Videos oder Links zu Webseiten angehängt werden können. Wer sich ein Konto eingerichtet hat, kann die Nachrichten anderer Nutzer abonnieren und ihnen so folgen. Das amerikanische Unternehmen mit Hauptsitz in San Francisco wurde 2006 gegründet; inzwischen hat es nach eigenen Angaben weltweit 241 Millionen „monatlich aktive Nutzer“ – drei Viertel davon außerhalb der USA. In der Türkei hat der Dienst nach Schätzungen mehr als zehn Millionen Mitglieder, in Deutschland schätzungsweise mehr als eine Million.

Formal beriefen sich Erdogan und die Telekommunikationsbehörde, die die Sperre verhängt, auf Gerichtsurteile und eine staatsanwaltliche Weisung. Doch der ganze Ton des Premiers machte deutlich, dass er derjenige sei, der hier die Entscheidungen treffe. Den Staatsanwalt hatte er persönlich einsetzen lassen. Das Twitter-Verbot ist die nächste repressive Maßnahme in einer Reihe von Sanktionen gegen die Zivilgesellschaft – und in einer Reihe von Skandalen: Erdogan gab persönlich Chefredakteuren Befehle, kritische Kommentatoren bei Medien zu entlassen. Erdogan und sein Sohn Bilal besprechen, was am nächsten Morgen die Schlagzeilen in den von ihnen gegängelten Medien sein sollen. Vor allem auf Twitter werden seit Monaten all die Telefonmitschnitte verbreitet, die zuvor von Unbekannten auf der Video-Plattform YouTube gepostet wurden. Es ging auch darum, dass Erdogan und sein Sohn jede Menge Geld beiseiteschaffen wollten. Erdogan bestreitet dies.

Repressionen und Skandale haben Erdogans Beliebtheitswerte und jene seiner Partei, der AKP, in Meinungsumfragen abrutschen lassen – auch wenn man auf Twitter erfahren durfte, dass er und seine Helfershelfer Druck auf Medien und Meinungsforschungsinstitute ausüben, damit sie Umfrageergebnisse manipulieren. Im vergangenen Jahr schuf die Regierung eine „Twitter-Armee“ von 6000 Mann, um die „Schlacht“ um die öffentliche Meinung im Internet zu gewinnen.

Wie in der Türkei waren soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter wichtige Kommunikationsmedien einer aufbegehrenden Protestbewegung auch in den arabischen Staaten wie Ägypten und Tunesien. Zuletzt organisierten auch Demonstranten auf dem Maidan in Kiew ihre Proteste gegen die Staatsgewalt vor allem via Internet. Twitter hilft bei der Mobilisierung von Menschen für Proteste – und es bietet die Chance, eine staatliche Zensur der Medien wie in Ägypten oder der Ukraine zu umgehen. Denn für einen Fernsehsender braucht es jede Menge Geld, Kameras und Reporter. Für ein Twitter-Konto reicht ein Computer. Gerade diese Transparenz mittels einfacher Technik macht Autokraten wie Erdogan oder Viktor Janukowitsch in der Ukraine Angst. Und sie wehren sich gegen die digitale Emanzipation ihrer Bürger.

In Syrien nutzt Diktator Baschar al-Assad Twitter mittlerweile für seine eigene Propaganda. Während der Demonstrationen in Kairo 2011 schaltete die ägyptische Regierung das Internet komplett ab. Trotzdem nützte die Blockade wenig. Der Suchdienst Google stellte Protestlern eine Nummer bereit, über die sie Videos und Texte weiterhin ins Internet stellen konnten.

Nach Schätzungen ist jeder dritte türkische Internetnutzer auf Twitter, das sind deutlich mehr Nutzer als in jedem anderen Land der EU. Offenkundig wollte Erdogan eine Woche vor der am 30.März anstehenden Kommunalwahl Twitter zum Schweigen bringen. Aber stattdessen wurde die soziale Plattform aktiver denn je. In den Stunden nach dem Verbot wurden 2,5 Millionen Nachrichten auf Twitter abgesetzt – 77 Prozent davon kamen aus der Türkei. Denn Twitter-Nutzer verstehen, wie man Sperren umgehen kann. Man kann problemlos über SMS, also das Mobiltelefon, twittern. Es war eine seltsame Stimmung in den Bars und Cafés in Istanbul, alle in ihre Geräte vertieft, um die Blockade zu umgehen. Überall gaben sich die Menschen Tipps. Und natürlich verbreiteten sie Anleitungen über das Internet. Weltweit wurde in den sozialen Netzen über Erdogan gelacht.

In Deutschland wäre eine politisch motivierte Maßnahme wie in der Türkei nicht möglich, denn eine Zensur, also eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, darf hier laut Artikel 5 des Grundgesetzes nicht stattfinden. In Ausnahmefällen, etwa wenn ein Dienst gegen den Jugend- oder den Datenschutz verstößt, können Behörden eingreifen. Verstieße etwa ein in Schleswig-Holstein tätiger Dienst gegen den Datenschutz, könnte das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz eine Untersagungsverfügung veranlassen, um dann zu einer gerichtlichen Anordnung zu kommen, erläutert Schleswig Holsteins Datenschutzbeauftragter Thilo Weichert.

Während in Deutschland Freiheit auch im Internet herrscht, gehen manche Länder noch schärfer gegen Informationen im Internet vor als die Türkei. Russland, Iran, China oder Turkmenistan blockieren viele Webseiten. Im Iran kann laut Reporter ohne Grenzen die Nutzung des Netzes durch Blogger oder Journalisten lebensgefährlich sein.