Auch drei Jahre nach dem Tsunami und dem Unglück von Fukushima leiden noch viele Japaner. 15.884 Tote sind bestätigt. Von 2636 Menschen fehlt weiter jede Spur.

Dort, wo früher eine Raststätte Reisende empfing und lokale Spezialitäten verkaufte, steht nur noch eine Ruine, flankiert von verbogenen Lichtmasten. Das Dach dieses Gebäudes war vor drei Jahren eine Zuflucht in der Todesgefahr: Auf die Aussichtsplattform an der meerzugewandten Seite retteten sich damals fünf Menschen. Immer weiter schwappte das eiskalte Salzwasser zu ihnen hoch, das bald die nordostjapanische Kleinstadt Rikuzentakata und jeden zehnten ihrer Bewohner verschlang. Die Wasserwand erreichte eine Höhe von 13,7 Metern, knapp unterhalb der Spitze des Gebäudes. Zu dieser Jahreszeit pfeift dort ein beißender Wind.

Heute zeigt ein roter Strich die Höhe des Mega-Tsunamis vom 11. März 2011, der nach einem Unterseebeben der Stärke 9,0 mehrere Hundert Kilometer der japanischen Pazifikküste völlig verwüstete und zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichiführte. Die Raststätte Tapic 45 ist neben einer Jugendherberge und einer Schule eines der wenigen beschädigten Gebäude, die seither nicht abgerissen wurden. Weil dort niemand gestorben war.

Wenn Überlebende der Katastrophe solche Überbleibsel ihres alten Lebens sehen, dann werden sie besonders unglücklich. Das war das Ergebnis vieler Umfragen in den Tsunamigebieten. Darum sind viele Gedenkorte, die in den ersten Monaten nach der Flut entstanden waren, mittlerweile wieder verschwunden – etwa das große Schiff, das bei dem Ort Kesennuma weit ins Landesinnere gespült wurde.

Stattdessen gibt es wie in Rikuzentakata neue Gedenkstellen in Form kleiner Holzhäuschen mit Gedenksteinen. Dorthin kommen am 11. März viele Betroffene, um zu beten, frische Schnittblumen oder Ketten aus bunten, gefalteten Papierkranichen abzulegen. Ihre verstorbenen Angehörigen sollen wissen, dass sie nicht vergessen sind. Inzwischen sind 15.884 Tote bestätigt. Von 2636 Menschen fehlt weiter jede Spur.

Selbst vergessen zu werden, das ist eine der größten Ängste der Überlebenden. „Außerhalb der Region Tohoku interessiert sich schon heute niemand mehr“, sagt der 61-jährige Shinji Sasaki bitter. Er lebt in der Übergangssiedlung Heita nahe der Industriestadt Kamaishi. Eigentlich geht der Wiederaufbau gerade erst richtig los, jedenfalls der „sichtbare Wiederaufbau“, wie es Regierungschef Shinzo Abe formuliert. Bei Sasaki, wie bei vielen anderen Überlebenden, verhallen die Verheißungen von einem „neuen Tohoku“ jedoch. Sie schimpfen auf die Zentralregierung – weil sie die Bedürfnisse der Überlebenden nicht verstehe, weil die Entscheidungsprozesse für den Wiederaufbau so lange dauern.

Immerhin: Mit Ausnahme der Präfektur Fukushima, wo wegen der radioaktiven Verstrahlung bisher nur wenig Tsunami-Schrott beseitigt werden konnte, sind die Schuttberge im Norden der japanischen Hauptinsel Honschu weitgehend abgetragen. Nur noch wenige Ruinen, deren Besitzer unbekannt sind oder nicht abreißen wollen, stehen auf den Brachflächen. Um sie herum führen unzählige Bagger ein eigenwilliges Ballett auf.

Für neue Wohnhäuser müssen zunächst Tsunami-Schutzwälle errichtet werden

Inzwischen haben mancherorts die Aufschüttungsarbeiten begonnen. Die berühmte „Miracle Pine“ in Rikuzentakata, eine Kiefer, die als einzige von 70.000 nach dem Tsunami stehen blieb, ist hinter einem wachsenden Netz von Förderbändern kaum noch zu erkennen. Über eine Brücke und weitere Bänder soll Erde herantransportiert werden, um das Bodenniveau über dem Meeresspiegel um acht bis zwölf Meter anzuheben. Doch vom Meer werden die künftigen Bewohner nicht viel sehen. Damit Wohnhäuser gebaut werden können, müssen erst wieder Tsunami-Schutzwälle errichtet werden.

Die teuren Bauprojekte sind unter den Bewohnern umstritten. Eine Seniorin, die ebenfalls in der Übergangssiedlung Heita lebt, ist skeptisch: „Als Kind konnte ich von meinem Haus aus das Meer sehen, dann wurden die Schutzwälle höher und höher. So verloren wir die Beziehung zum Meer und waren uns der Gefahr nicht mehr bewusst, als der Tsunami kam.“

Wer bis jetzt noch nicht aus eigener Kraft sein Haus oder seinen Laden wieder aufbauen konnte, der muss noch länger in den engen, containerartigen Behausungen ausharren. Kano Tamura, eine Mittzwanzigerin aus Kesennuma, erzählt, dass sie und ihre Familie frühestens 2015 in Sozialwohnungen umziehen können. Sie muss womöglich noch zwei Jahre länger auf weniger als 40 Quadratmetern mit ihren Eltern und ihrer Großmutter aushalten. „Überall wird jetzt mehr gestritten, auch in meiner Familie“, sagt Frau Tamura. Die hellhörigen Wände lassen wenig Privatsphäre zu. Die Tamuras konnten damals nicht mit ihren früheren Nachbarn gemeinsam umziehen. Ihnen und vielen anderen Nordjapanern, die ein Leben in fest gefügten Gemeinschaften gewohnt sind, fällt es schwer, so nah mit bisher unbekannten Menschen zusammenzuleben. Damit sie nicht gleich wieder in eine solche Lage kommen, wollen manche, die sich in den Übergangssiedlungen mittlerweile angefreundet haben, geschlossen an höher gelegene Orte umziehen.

Doch um neu zu bauen, müssen erst ebene Flächen gefunden oder durch Abtragen von Bergspitzen geschaffen werden. Und ob sich dann noch Baufirmen und Handwerker finden, ist fraglich. Sie sind so rar wie begehrt in den Katastrophengebieten. Schon jetzt, sagen viele, spüre man in Nordjapan die Olympischen Sommerspiele in Tokio 2020. „Wir sind sehr besorgt, dass wir Baumaterialien und Arbeiter wegen der Vorbereitungen für die Spiele noch schwieriger bekommen“, sagt der Gouverneur der Präfektur Iwate, Takuya Tasso. „Wir fordern von der Zentralregierung, dass die Katastrophenregion zuerst kommt und Olympia an zweiter Stelle.“

Die Spannungen zwischen Tokio und den betroffenen Gemeinden Hunderte Kilometer entfernt verzögern den Wiederaufbau zusätzlich. Chieko Uchikawa von der Industrie- und Handelskammer in Otsuchi sagt: „Wenn die Stadt, die Präfektur und die Zentralregierung keine gemeinsame Linie finden, wird das mit dem Wiederaufbau nichts.“ Hinzu komme ein Mangel an Fachleuten in den Gemeinden, die Wiederaufbaupläne umsetzen können; daran konnten auch Entsandte aus anderen Landesteilen nur wenig ändern.

Bisher profitieren vom Wiederaufbau vor allem große Baufirmen und Handelsketten. Aeon hat sein Netz von Rieseneinkaufszentren entlang der Küste ausgedehnt. Diese Woche eröffnet ein neues in Kamaishi. Dort hofft mancher, dass dadurch mehr Menschen aus der Umgebung herkommen. Aber wahrscheinlicher ist, dass es den vielen kleinen Einzelhändlern den Neustart schwer macht. Zu ihnen gehört die Ladenbesitzerin Machiko Kikuchi, die zwei kleine Geschäfte in Einkaufspassagen am Bahnhof führt. Kürzlich seien dort zwei Publikumsmagneten, eine Bekleidungskette und ein Mobilfunkladen, weggezogen, um in der Aeon Town wieder aufzumachen. „Jetzt wird es bei uns stiller werden“, befürchtet Kikuchi.

Der Tsunami hat in Otsuchi die Tendenz zur Abwanderung noch verstärkt

Auch für die 44 Einzelhändler in Otsuchi, die ihre Läden in einem provisorischen Einkaufszentrum wieder eröffneten, sieht die Zukunft trübe aus. Zwar profitieren manche von den Bauarbeitern. Andere, wie der 66-jährige Bekleidungshändler Shigeru Yamazaki, fragen sich, ob sich das Warten lohnt. „Bis ich einen neuen Laden eröffnen kann, bin ich über 70“, sagt Yamazaki, der auch dem Verband der hiesigen Geschäftsleute vorsteht.

Jüngere Leute in ihren Dreißigern oder Vierzigern, die genug verdienten, wohnten kaum noch hier, sagt er. Schon vor der Katastrophe war die Region von Abwanderung und Überalterung geprägt. Der Tsunami hat die Tendenz verstärkt. Auch deshalb fragen sich nun viele Gemeindeobere insgeheim, für welche Bürger sie die Städte eigentlich wieder aufbauen.

Wohl nicht für diese Gruppe Oberschüler in Otsuchi. Die meisten wollen nach ihrem Schulabschluss „erst einmal“ weg, sagen sie. „Aber später wollen wir wiederkommen, etwas für unseren Ort tun“, versichern sie. Ob es bis dahin genug gut bezahlte Arbeitsplätze und Wohnraum für sie gibt – mit Sicherheit kann das niemand sagen. Klar ist nur: Bis stark zerstörte Orte wie Otsuchi und Rikuzentakata wieder ein funktionierendes Stadtleben haben, werden noch mindestens acht Jahre ins Land gehen, schätzt der Gouverneur von Iwate.

Acht Jahre sind selbst für die sprichwörtlich geduldigen Nordjapaner eine sehr lange Zeit. Immerhin, es gibt ein Datum, das ihnen eine Perspektive gibt. In Fukushima hingegen ist weiter völlig unklar, was mit den infolge des Atomunfalls Evakuierten passiert. Das zerrt an den Nerven. „Bitte vergesst das Erdbeben nicht“, bitten die Oberschüler aus Otsuchi im Namen aller Betroffenen. „Und wir werden nicht vergessen, für die Hilfe zu danken, die wir aus der ganzen Welt erhalten haben.“