Die Krise um die Krim spitzt sich zu. Weltbank will die Ukraine mit Finanzhilfen von bis zu zwei Milliarden Euro unterstützen

Charkow. Die russischstämmigen Bewohner der Krim treiben die Loslösung von Kiew mit Hilfe aus Russland Tag für Tag voran; wie groß die Wut auf die neue ukrainische Regierung auch im Osten des Landes ist, merkt Vitali Klitschko am eigenen Leib. Junge Männer schleudern Eier, ja sogar Steine und Feuerwerkskörper auf den Ex-Boxweltmeister, der im Zentrum von Charkow auf einem Rednerpodium und damit wie auf einem Präsentierteller steht. Zornige ältere Frauen recken ihm Plakate entgegen: „Russland, rette uns!“, steht dort etwa oder in etwas holprigem Deutsch: „Klitschko, Du bist nicht unser.“

Nicht wenige Menschen in den Gebieten nahe der Grenze zu Russland wünschen sich ein Referendum über die Zukunft ihrer Heimat – ganz wie es die moskautreue Führung auf der Krim für den 16. März plant. Auf der Halbinsel wie in der Ostukraine ist Russisch die Muttersprache der meisten. Und so waren Frust und Enttäuschung groß, als die neue Führung in Kiew in einer der ersten Amtshandlungen nach ihrer Machtübernahme ein Gesetz strich, das Russisch in diesen Gegenden zur zweiten Amtssprache erhob.

Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Tausende prorussische Aktivisten in einer ostukrainischen Großstadt für größere Autonomie demonstrieren. Vor allem Rufe werden laut, das in dem industriereichen Gebiet erwirtschaftete Geld nicht mit dem landwirtschaftlich geprägten Westen teilen zu müssen. Ziel ist allerdings oft eher eine Föderalisierung des Landes denn eine endgültige Abspaltung.

Aber die Spannung wächst. In Lugansk stürmen Protestierer den Sitz der Gebietsverwaltung und zwingen Gouverneur Michail Bolotskych, erst eine Woche zuvor eingesetzt, zum Rücktritt. Auf dem Dach hissen sie die russische Fahne. „Russland, Russland“, schallen ihre Sprechchöre über die Plätze. In der Großstadt Donezk amtiert mit dem prorussischen Aktivisten Pawel Gubarjow tagelang sogar ein selbst ernannter „Volksgouverneur“ – auch aus Protest gegen den von der Zentralregierung eingesetzten Milliardär Sergej Taruta. Schließlich verhaftet der Geheimdienst SBU zwar Gubarjow. Nun aber gilt der junge Mann, der Verbindungen zu Neonazikreisen haben soll, vielen als Märtyrer im Kampf gegen die „Extremisten“ und „Faschisten“ aus dem Westen.

Gegner der prowestlichen Führung in Kiew zeichnen das Schreckgespenst eines Überfalls radikaler Nationalisten an die Wand – etwa vom Rechten Sektor, dem militanten Kern des Umsturzes in der früheren Sowjetrepublik. Schon warnt Kremlchef Wladimir Putin, er werde die Armee ins Nachbarland schicken, falls dort ethnische Russen bedroht würden. Immer wieder wird in Kiew die Furcht laut, prorussische Schlägertrupps könnten diesen Einsatz provozieren.

Auch Präsidentschaftskandidat Klitschko vermutet hinter den Störern „sportliche Touristen“ aus Russland. „Sie reisen durch die östlichen Regionen und fordern ein Referendum“, betont er. „Sie können zu Hause etwas verlangen, aber sollen nicht die Menschen in der Ukraine provozieren und anstacheln.“ Örtliche Medien berichten von Dutzenden Bussen, die Aktivisten über die nahe Grenze bringen.

Die Polizei greift nur selten ein. Zwar sichern in Donezk mit Schilden und Schlagstöcken ausgerüstete Einheiten den Verwaltungssitz. Aber bei der Klitschko-Kundgebung in Charkow halten sich die Sicherheitskräfte zurück. Bodyguards müssen den Politiker mit Regenschirmen beschützen. Oft sind die Polizisten schlicht in der Minderheit, zudem wenig motiviert. In der zweitgrößten Stadt des Landes hat Bürgermeister Gennadi Kernes das Sagen. Offiziell hat er Kiew zwar Treue geschworen, vorher aber galt er als Anhänger des gestürzten Janukowitsch.

Um ihren Einfluss im Osten zu stärken, setzt die Zentralregierung nun auf die Hilfe der einflussreichen Großindustriellen. So hat Interimspräsident Alexander Turtschinow nicht nur Taruta in Donezk eingesetzt, sondern auch den Milliardär Igor Kolomoiski zum Oberhaupt des Gebiets Dnjepropetrowsk gemacht, der Heimat von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko.

Derweil spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und den USA einerseits und Moskau andererseits um das Verhalten der russischen Führung in der Krim-Krise zu. Die EU bereitet als weitere Sanktionen Einreiseverbote und Kontensperrungen vor. Am kommenden Montag könnten die EU-Außenminister die verschärften Strafmaßnahmen gegen Russland beschließen, kündigten Diplomaten in Brüssel an. Am Sonntag hält die Krim das international nicht anerkannte Referendum über einen Anschluss an Russland ab. Die selbst ernannte Führung der Krim rechnet mit einer großen Mehrheit für einen Anschluss an Russland. „Mehr als 80 Prozent der Einwohner der Krim sind für den Beitritt zu Russland“, behauptete der moskautreue Parlamentschef Wladimir Konstantinow. Der Kreml hat zugesichert, bei einem entsprechenden Votum die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Krim in die Russische Föderation aufzunehmen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte Russland nochmals zur Mitwirkung an einer internationalen Kontaktgruppe zur Lösung der Krim-Krise auf. Die Weltbank hat angekündigt, die Ukraine mit Finanzhilfen mit bis zu drei Milliarden US-Dollar (2,16 Mrd Euro) zu unterstützen.

Auf der Krim blieb die Lage angespannt. Bewaffnete nahmen nach ukrainischen Medienberichten am Montag einen Militärstützpunkt in Bachtschissaraj ein. Außerdem brachten die prorussischen Kräfte das Militärkrankenhaus der Krim-Hauptstadt Simferopol unter ihre Kontrolle. Die ukrainischen Streitkräfte rückten landesweit zu Militärübungen aus, um nach eigenen Angaben ihre Gefechtsbereitschaft zu überprüfen.

Vor dem für Mittwoch geplanten Besuch Merkels in Warschau wurden auch Meinungsverschiedenheiten unter westlichen Ländern deutlich: Polens Ministerpräsident Donald Tusk äußerte sich kritisch über das Ausmaß russischer Energielieferungen. Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdgas könne die Souveränität Europas gefährden, so Tusk. Das westliche Verteidigungsbündnis will Awacs-Überwachungsflugzeuge über Polen und Rumänien patrouillieren lassen, um die Krise in der Ukraine zu beobachten. Der Uno-Sicherheitsrat hat am Montagnachmittag in New York erneut wegen der Krise in der Ukraine getagt. Es ist bereits das fünfte Treffen des Gremiums zum Ukraine-Konflikt.