Nachbarländer blicken skeptisch auf ihre russischen Minderheiten. Auch sie könnten dem Kreml als Vorwand zum Eingreifen dienen

Berlin. Die brisanten Entwicklungen auf der Krim haben zu einem wohl kaum geplanten Nebeneffekt geführt. Länder, in denen eine größere Zahl von Russen außerhalb der Russischen Föderation leben, beginnen misstrauisch auf die Vertreter dieser Minderheit zu blicken. Und sie fragen sich, ob auch „ihre Russen“ künftig als Vorwand für Moskaus territoriale Ambitionen herhalten könnten. Das Unbehagen beschleicht vor allem jene Länder, die einst zum russischen Zarenreich, dann zur Sowjetunion gehörten und nach deren Zerfall unabhängig wurden.

Schon in der Folge des Krieges gegen Georgien, für dessen Ausbruch der damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili den unmittelbaren Anlass lieferte, offenbarte die russische Führung eine Probe ihres geopolitischen Verständnisses: Das OSZE-Mitglied Russland trennte das OSZE-Mitglied Georgien von seinen Provinzen Südossetien und Abchasien und erkannte deren Unabhängigkeit an. Beide Pseudo-Länder, völkerrechtlich noch immer Bestandteile Georgiens, sind heute nur durch die Hilfe Moskaus überlebensfähig.

Die Begründung damals: Man habe das Leben russischer Staatsbürger schützen müssen. Dabei handelte es sich um Südosseten und Abchasen, die zuvor massenweise mit russischen Pässen ausgestattet worden waren. Als „Lehre“ aus diesem Konflikt ließ Putin in der Staatsduma ein Gesetz verabschieden, mit dem die russischen Streitkräfte seither berechtigt sind, auch im Ausland zu agieren, um das Leben ihrer Landsleute zu schützen. Nun stehen die Krim und die Ostukraine – beide Landesteile hat Putin immer als „urrussisches Gebiet“ betrachtet – vor einem ähnlichen Szenarium. Putin, so scheint es, hat mit dem „Sammeln“ ehemaliger sowjetischer Gebiete außerhalb der Russischen Föderation begonnen. Und er ist um ideologische Begründungen nicht verlegen. „Der Westen ist nun verbündet mit echten Neonazis, die orthodoxe Kirchen und Synagogen zerstören“, erklärte sein Außenministerium.

Diese mögliche Entwicklung, die auf der Krim de facto bereits vollzogen ist, ruft bei Nachbarn Russlands, oft mit einem hohen russischen Bevölkerungsanteil, ernsthafte Besorgnis hervor. „Entdeckt“ Moskau auch unsere russische Minderheit, falls wir uns russischen Forderungen verweigern? In diesem Kontext fühlen sich die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland in ihrer Entscheidung, der Nato beizutreten, bestätigt. Sie können sich in unmittelbarer nördlicher Nachbarschaft zum russischen Imperium weitgehend sicher fühlen. Diese Erfahrungen könnten nun, von Moskau freilich unbeabsichtigt, die Hinwendung einiger Ex-Sowjetrepubliken nach Westen beschleunigen.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 – für Kremlchef Wladimir Putin die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts – leben nach offizieller Moskauer Zählung rund 25 Millionen Russen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation. Ihre Zahl geht zwar zurück, da sie sich zunehmend unwohl fühlen in der Umgebung von Menschen, die ein neues Nationalgefühl entwickeln. Auch hat Moskau ein unbefristetes Programm zur Repatriierung von Russen aufgelegt. Doch das hat bislang keine wesentlichen Ergebnisse gebracht, die russische Bürokratie behindert die Einwanderung ihrer eigenen Landsleute. Sind sie im Ausland nützlicher?

Zu den Nachbarn, für die der Kreml ein spezielles strategisches Interesse entwickelt hat, zählt zweifellos Weißrussland. Der Anteil der Russen an der Bevölkerung hält sich zwar in Grenzen, aber die russische Sprache, neben dem Weißrussischen die zweite Amtssprache, dominiert den Alltag. Für drei Viertel der Menschen ist Russisch die Hauptumgangssprache. Doch diese Tatsachen sind aus Moskauer Sicht sekundär. Weißrussland spielt vielmehr, wie auch die Ukraine, die Rolle eines vorgelagerten Schutzgürtels im Westen. EU und Nato beginnen schon in Polen. Weißrussland fällt da als Mitglied der GUS-Luftabwehr mit seiner Frühwarnstation in Baranawitschy eine wichtige militärische Aufgabe zu. Das Land ist zudem wichtig für die Durchleitung von russischem Gas und Öl. Der diktatorisch agierende Präsident Alexander Lukaschenko hat in der Vergangenheit vereinzelt Annäherungsversuche an die EU unternommen, wurde aber immer durch ökonomischen Druck aus Moskau diszipliniert.

Den höchsten Anteil an der Bevölkerung, abgesehen vom Baltikum, haben die Russen in der rohstoffreichen Republik Kasachstan. Sie leben vorwiegend im Norden des Landes, der an Sibirien grenzt. In den Städten Petropawlowsk und Pawlodar, die vor mehr als 300 Jahren von Kosaken gegründet wurden, leben noch heute mehr Russen als Kasachen, obwohl es eine permanente Abwanderung gibt. In den 1990er-Jahren gab es bereits Versuche auf regionaler Ebene, diese Gebiete Russland anzugliedern. Sie verliefen im Sande, weil Russland zu der Zeit von eigenen inneren Sorgen geplagt war und die strategische Bedeutung Nordkasachstans bei Weitem nicht an die der Krim und der Ostukraine heranreicht.

In wenigen Tagen wird der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew in Moskau erwartet. Dann wird es wohl auch um die Ukraine gehen. Denn die ist neben Kasachstan und Weißrussland wichtig für die von Putin geplante Eurasische Union. Nasarbajew, selbst autokratisch veranlagt, dürfte sich fragen, was das denn für eine Union werden soll, wenn Russland sich derart unverfroren über internationales Recht hinwegsetzt. Und was das gegebenenfalls für sein Land bedeuten könnte.

Ein ganz spezielles Projekt genießt seit mehr als 20 Jahren den besonderen Schutz Moskaus: Transnistrien. Dieser vorwiegend russischsprachige Teil der Republik Moldau hatte sich zu Beginn der 1990er-Jahre vom Mutterland abgetrennt. Den Ausbruch eines militärischen Konflikts unterdrückten die in Transnistrien stationierten Truppen Moskaus. Das verhinderte ein Blutvergießen, sicherte aber gleichzeitig dem Kunstprodukt, in dem bis heute russische Soldaten stationiert sind und das einer Miniatur-Sowjetunion gleicht, das Überleben. Dieser von Moskau sorgfältig bewahrte Pfahl im Fleische Moldaus dient russischen Interessen, indem er die Annäherung des kleinen, sehr armen Landes an die EU behindert. Und er sendet starke Signale an Georgien und Armenien, die sich ebenfalls von der EU angezogen fühlen.