Russland legt Finanzhilfen für die Ukraine auf Eis, EU kündigt finanzielle Unterstützung an. Volk besichtigt Palast des geflüchteten Janukowitsch

Kiew. Nach dem Umsturz in der Ukraine übernimmt die Oppositions-Ikone Julia Timoschenko mit ihrer Partei immer mehr Macht im Land. Das Parlament ernannte ihren Vertrauten Olexander Turtschinow am Sonntag zum Übergangspräsidenten, bis am 25. Mai ein neues Staatsoberhaupt gewählt wird. Turtschinow rief die Abgeordneten auf, sich bis Dienstag auf eine Regierung der nationalen Einheit zu einigen. Die Zeit drängt, da die Ukraine kurz vor dem Staatsbankrott steht. Russland drehte dem Land als Reaktion auf den Machtwechsel den Geldhahn ab und legte dringend benötigte Milliardenhilfen auf Eis. Die EU sagte der Ukraine zwar finanzielle Unterstützung zu, knüpft diese aber an Reformen der neuen Regierung in Kiew.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Timoschenko telefonisch zu ihrer Haftentlassung gratuliert. Mit einem „Willkommen in der Freiheit“ soll Merkel Timoschenko nach Angaben aus Berliner Regierungskreisen begrüßt und ihr die Behandlung ihres Rückenleidens in Deutschland angeboten haben. Politisch solle Timoschenko sich für den Zusammenhalt des Landes engagieren und auch auf die Menschen im Osten der Ukraine zugehen, betonte die Kanzlerin demnach. Auch um den Zusammenhalt der bisherigen Opposition solle sich die Oppositionsführerin bemühen. Timoschenkos Partei in Kiew teilte mit, Merkel habe ihre Unterstützung bei Reformen in der Ukraine in Aussicht gestellt. Zudem hätten die Politikerinnen ein baldiges Treffen vereinbart. Merkel hat sich auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonisch über die Lage in der Ukraine ausgetauscht. „Beide stimmten darin überein, dass die Ukraine rasch eine handlungsfähige Regierung erhalten und ihre territoriale Integrität gewahrt bleiben müsse“, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.

Timoschenko war nach ihrer Rückkehr nach Kiew von der Menge auf dem zentralen Maidan-Platz mit Beifall wie auch mit Pfiffen empfangen worden. Im Osten der Ukraine leben überwiegend Anhänger des am Sonnabend vom Parlament abgesetzten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Über dessen Aufenthaltsort herrschte auch am Sonntag noch Ungewissheit. Janukowitsch wird in seiner Heimatstadt Donezk vermutet, wo er laut Interfax von der Grenzpolizei daran gehindert wurde, sich ins Ausland abzusetzen. Seine Amtsgeschäfte übernimmt bis auf Weiteres der zum Parlamentspräsidenten gewählte Turtschinow. Der 49-Jährige stammt ebenso wie Timoschenko aus Dnjepopetrowsk im Osten und ist stellvertretender Vorsitzender ihrer Vaterlandspartei.

Timoschenko war am Sonnabend aus dem Haftkrankenhaus entlassen worden. Die frühere Gas-Magnatin gilt als charismatische Persönlichkeit, die die sehr unterschiedlichen Strömungen der Opposition einen könnte. Am Sonntag kündigte sie an, nicht für das Amt der Regierungschefin kandidieren zu wollen. Damit lässt sie die Möglichkeit offen, bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. Als aussichtsreiche Ministerpräsidenten-Kandidaten gelten der frühere Außenminister Arseni Jazenjuk und der Schokoladen-Milliardär Petro Poroschenko. Die Opposition hat den ukrainischen Bürgern Wirtschaftsreformen und eine engere Anbindung an die EU versprochen. Timoschenko sprach bei einem Auftritt vor den Massen auf dem Maidan-Platz sogar von einem Beitritt zur Europäischen Union, was allerdings nicht allzu rasch geschehen dürfte.

In Kiew begann unterdessen die juristische Aufarbeitung der Gewalt auf dem Maidan. Der geschäftsführende Innenminister Arsen Awakow leitete Ermittlungen gegen 30 Beamte seines Ressorts wegen des Verdachts auf Machtmissbrauch ein, wie Interfax meldete. Parlamentsbeauftragte kündigten juristische Schritte gegen Mitglieder der alten Regierung und die Verantwortlichen für den Scharfschützeneinsatz auf dem Maidan an. Der neue Übergangschef des staatlichen Sicherheitsdienstes sagte zu, er werde mit den Vertretern des Maidan zusammenarbeiten, um die Mörder und ihre Auftraggeber zu stellen. Auf dem Platz im Stadtzentrum waren in bürgerkriegsähnlichen Schlachten vergangene Woche 82 Menschen getötet worden.

Auch am Sonntag harrten Zehntausende Menschen auf dem Maidan aus. „Wir werden bis zum Schluss hierbleiben, bis es einen neuen Präsidenten gibt“, kündigte der 23-jährige Bohdan Sachartschenko an. Vitali Servin sagte, die Demonstranten würden eine Spaltung ihres Landes nicht zulassen. Andere begaben sich am Wochenende zu einem ganz besonderen „Tag der offenen Tür“, der selbst selbst die kühnsten Erwartungen der Ukrainer sprengte. Edle Möbel, teure Oldtimer, exotische Tiere – überwältigt vom Glanz und Protz durchstreiften Tausende Menschen die Residenz Meschigorje des abgesetzten Janukowitsch. Sie durchstöberten die Schränke, fotografierten seine roten Unterhosen.

Hals über Kopf muss Janukowitsch in der Nacht zum Sonnabend Meschigorje, 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt, verlassen haben. Sein Fuhrpark erinnert an die Ausstattung eines arabischen Scheichs – oder auch an ein Museum. Kaum ein Modell, das es nicht gibt. Einen seltenen Luxuswagen vom Typ Horch soll Janukowitsch noch mitgenommen haben. Vor den Autos und Motorrädern stehen Erklärungstafeln. Und wenn es einmal ein Ausflug auf dem Wasser sein sollte? Dafür standen in einer riesigen Halle mehrere Möglichkeiten bereit – von der riesigen Jacht bis zum spritzigen Motorboot. Ein großes Segelschiff auf einem See dient als Restaurant.

Schon seit Jahren warfen Kritiker dem geflohenen Staatschef, seinen Söhnen und Vertrauten – der sogenannten „Familie“ – Korruption und Vetternwirtschaft vor. Beim Blick auf das eigene Gewächshaus, die palastartigen Säle sowie den Privatzoo mit Straußen, Pfauen und Antilopen sehen sich viele Ukrainer nun bestätigt. Doch die Schaulustigen fanden noch mehr. Aus einem See fischten sie Dokumente, die eilig vernichtet werden sollten, und trockneten sie in einer Halle: Listen über horrende Ausgaben für Renovierungen und Angestellte. Aber es waren auch Dokumente über Personen zu finden, die Janukowitsch als seine Gegner betrachtet hatte. So soll der Name von Tatjana Tschornowol auf einer Schwarzen Liste mit Reportern stehen. Unbekannte hatten die investigative Journalistin Ende Dezember massiv verprügelt und dabei lebensgefährlich verletzt. Tschornowol hatte Janukowitsch vorgeworfen, hinter der brutalen Attacke zu stecken.