In der Ukraine herscht große Skepsis gegenüber Abkommen von Präsident und Opposition. Zu oft hat Janukowitsch auf Zeit gespielt und getäuscht

Kiew. Als die Sache fast schon entschieden war, morgens um halb acht, gingen die Europäer wieder getrennte Wege: Frankreichs Außenminister Laurent Fabius stieg ins Flugzeug nach China, der polnische Kollege Radoslaw Sikorski ging zum Frühstück ins Hotel und Frank-Walter Steinmeier ins Bett. Wofür man nach 27 Stunden ohne Schlaf durchaus Verständnis haben kann. Die Mühe hat sich gelohnt: Überraschend hat das EU-Trio im ukrainischen Machtkampf zwischen Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition in Kiew einen Kompromiss zustande gebracht – auch wenn die Sache in letzter Minute noch auf der Kippe stand.

Ruft man sich die Ereignisse der letzten drei Monate in Erinnerung, ist die Einigung alles andere als selbstverständlich. Bis in die letzten Stunden hinein: Die Schreie, Schüsse und Einschläge vom Maidan waren auch bei den Verhandlungen 500 Meter weiter im Präsidialamt gut zu hören. Ob die Gespräche dadurch nur belastet oder vielleicht sogar erleichtert wurden, darüber lässt sich streiten. Die Stimmung soll manchmal beklemmend gewesen sein.

Der Durchbruch gelang in fünf Runden, nach einem Verhandlungsmarathon von 21 Stunden: zunächst mit Vitali Klitschko und den anderen Oppositionsführern, dann mit Janukowitsch, wieder mit der Opposition, wieder mit Janukowitsch und schließlich, bereits nach Mitternacht, mit allen gemeinsam im Präsidialamt. Immer wieder gab es Telefonate: Steinmeier mit Kanzlerin Angela Merkel, Fabius mit Präsident François Hollande, Janukowitsch mit Kremlchef Wladimir Putin.

Um 2.00 Uhr in der Früh stieß dann der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin als Sondervermittler von Putin dazu – vielleicht einer der entscheidenden Momente. Die Russen waren mit ihrem Milliardenkredit für die Ukraine, der das schon ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU blockierte, der Auslöser für die Proteste gewesen. Von nun an waren auch sie in die Vermittlung eingebunden, und Janukowitsch war die Ausrede verbaut, er müsse mit Moskau reden. Aus der Runde war zu hören, der Präsident sei mit Dauer der Gespräche immer gelöster geworden.

Am Vormittag gab es dann noch einmal Drama. Plötzlich weigerte sich ein Teil der Opposition, die Vereinbarung zu unterschreiben. Steinmeier und Sikorski machten sich gemeinsam auf den Weg ins Hotel Kiew, um bei der Maidan-Bewegung Überzeugungsarbeit zu leisten. Sikorski twitterte: „Alle Seiten müssen sich in Erinnerung rufen, dass ein Kompromiss bedeutet, dass man weniger als 100 Prozent bekommt.“ Aus Berlin rief Merkel noch einmal bei Klitschko an, um die Unterschriften der Opposition zu bekommen.

Um 15.41 Uhr setzten dann im Spiegelsaal des Präsidialamtes die Beteiligten ihre Namen unter den Kompromiss. Der Präsident sagte kaum ein Wort. Klitschko vertauschte noch schnell das Namenschild, um neben Steinmeier sitzen zu können – und nicht neben Janukowitsch. Der Fahrplan für eine friedliche Lösung sieht nun so aus: Wiedereinsetzung der alten Verfassung, Bildung einer Übergangsregierung mit Ministern der Opposition innerhalb von zehn Tagen, Verfassungsreform bis September und vorzeitige Präsidentenwahlen spätestens im Dezember. Steinmeier sagte, nicht alle Probleme seien nun gelöst. Aber: „Das war vielleicht die letzte Chance, um einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden.“ Sikorski meinte: „Damit hat die Ukraine nun die Chance, wieder Frieden zu finden.“

Für die viel gescholtene europäische Außenpolitik bedeutet die Einigung zunächst einmal einen großen Erfolg . Über den Kraftausdruck „Fuck the EU“ der US-Diplomatin Victoria Nuland haben sich viele doch sehr geärgert. Aber auch einige Europäer – wie zum Beispiel SPD-Altkanzler Gerhard Schröder – hatten die EU als Vermittler praktisch schon abgeschrieben.

Noch am Abend stimmten die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments für die Entlassung des Innenministers Vitali Sachartschenko wegen des Gewalteinsatzes auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan). Er ist die Hassfigur der Demonstranten. Das Parlament änderte zudem das Strafrecht, so dass die inhaftierte frühere Regierungschefin und Oppositionsführerin Julia Timoschenko freigelassen werden könnte. Viel hängt für die weitere Entwicklung jetzt aber davon ab, ob die Vereinbarungen Bestand haben werden.

Und das scheint durchaus nicht garantiert. Als am Freitagmittag von der Bühne des Maidan verkündet wurde, dass Janukowitsch zu Neuwahlen im Dezember bereit sei, pfiffen die Demonstranten enttäuscht. Sie schrien: „Nur Rücktritt! Nur Gefängnis!“ Proteste, die als Reaktion auf das Abweichen vom Integrationskurs mit der Europäischen Union angefangen haben, sind längst zu Protesten gegen Janukowitsch und sein System geworden. Solange er nicht geht, wollen die meisten Menschen, die man hier fragt, bleiben. Der Schock über die vielen Toten ist groß. Derartiges hat die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit nicht erlebt. Die Bürger sahen Leichen, die in langen Reihen an den Rändern des Maidan abgelegt worden waren, sie sahen Videos, auf denen Scharfschützen der Polizei auf Demonstranten schossen.

Und Unzählige fordern, dass die Machthaber für das Blutvergießen zur Verantwortung gezogen werden, vor allem Präsident Janukowitsch. Nachdem was in Kiew passiert ist, könnte er nach einem Rücktritt wohl nicht mehr in der Ukraine bleiben, sondern müsste sich ein Land suchen, das seine Sicherheit garantiert. Seit dem Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2010 hatte Janukowitsch das politische System der Ukraine so umgebaut, dass der Präsident immer mehr Macht bekam. Er sprach von Korruptionsbekämpfung, und gleichzeitig stieg sein Sohn Alexander mit einem Vermögen von umgerechnet 187 Millionen US-Dollar in der Liste der reichsten Ukrainer auf. Im vergangenen Jahr versprach Janukowitsch die Integration in das Nachbarschaftssystem der EU. Dann änderte er seine Entscheidung plötzlich kurz vor dem Gipfeltreffen in Vilnius im November. Er hat viel Vertrauen verspielt. Viele Demonstranten befürchten nun, dass Janukowitsch nur auf Zeit spielt und auf einen Anlass wartet, den Maidan mit Gewalt zu räumen. Nachdem es Ende Januar erste Tote bei den Zusammenstößen auf der Gruschewskogo-Straße gab, hatte Janukowitsch bereits mit der Opposition verhandelt. Vereinbart war zunächst nur eine Amnestie unter der Bedingung, dass Demonstranten öffentliche Gebäude und Straßen räumen. Diese Phase der Deeskalation endete aber am Dienstag mit einem noch größeren Blutbad, als das Parlament nicht über Verfassungsänderungen abstimmen wollte, Demonstranten auf das Parlamentsgebäude marschierten und anschließend von der Polizei zurückgedrängt wurden, sodass der Maidan fast geräumt wurde.

Die Kompromisse, die Janukowitsch nun eingeht, werden daher von den Demonstranten mit Skepsis aufgenommen. Der Weg zur Lösung der Krise in der Ukraine ist noch sehr lang.