Müssen streng religiöse Juden zur Armee? Ein Gericht verbietet jetzt Stipendien für Verweigerer und heizt damit den innenpolitischen Streit an.

Niemals werde ich mich zur Armee einziehen lassen, um keinen Preis“, sagt der aufgebrachte junge Mann und wedelt wild mit den Händen. „Dieser Plan der verwirrten Richter und einer gottlosen Regierung wird scheitern – und wenn es einen Bürgerkrieg gibt.“

Chaim Bleich ist 19 Jahre alt und müsste an diesem sonnigen Wintertag eigentlich mit seinen Kameraden eine israelische Kaserne bevölkern. Stattdessen ist der junge Mann mit den schwarzen Hosen, dem weißen Hemd und dem noch etwas schütteren Bart auf dem Weg in seine Religionsschule in der ultra-orthodoxen Stadt Bnei Brak. Nicht weit entfernt leuchten die Hochhäuser von Tel Aviv in der Sonne. Da ist Chaim Bleich noch nie gewesen. Er ist ein ultra-orthodoxer Jude.

Die Charedim – die Gottesfürchtigen – sind innerhalb der israelischen Gesellschaft eine Art Subkultur. Sie folgen einer besonders strengen Auslegung des Judentums und bleiben unter sich. Sie leben in ihren eigenen Wohnvierteln, schicken ihre Kinder in ihre eigenen Schulen, und auch vom eigentlich obligatorischen Militärdienst waren sie lange praktisch ausgenommen. Das soll sich nun ändern, und deshalb droht Chaim Bleich mit dem Bürgerkrieg. Finanzminister Jair Lapid derweil droht mit dem Koalitionsaustritt seiner Partei, wenn junge Männer wie Bleich weiterhin nicht zum Militär müssen. Und die Obersten Richter des Landes haben der Regierung in unmissverständlichen Worten ihren Unmut darüber zum Ausdruck gebracht, dass im Parlament niemand so wirklich Lust zu haben scheint, sich an der heißen Frage die Finger zu verbrennen.

Die bisherige Ausnahmeregelung, die den orthodoxen jungen Männern praktisch den Wehrdienst erließ, war ausgelaufen, und auf eine Neuregelung kann sich die Politik nicht einigen, zahlt aber gleichzeitig die staatlichen Stipendien für Religionsschüler weiter, die eigentlich nach dem Gesetz längst eingezogen sein müssten. Das haben die Richter nun unterbunden. Eine Lösung ist das nicht. Aber ein trefflicher Anlass, den lange schwelenden Konflikt mal wieder eskalieren zu lassen.

Man könnte sich fragen, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte? Tatsächlich ist das Problem hausgemacht, die ultra-orthodoxen Lebenswelten des modernen Israelis hat es in der Geschichte des Judentums so bisher gar nicht gegeben. Im Gründungsjahr Israels, 1948, hatten ultra-orthodoxe ebenso viele Kinder wie säkulare Familien, sie heirateten im selben Alter und waren gleichermaßen in den Arbeitsmarkt integriert. Zahllose fahrlässige Entscheidungen der Politik sorgten erst dafür, dass die Charedim in Israel den Traum vom Leben abseits der Moderne mit einer anderswo undenkbaren Konsequenz umsetzen konnten. Heute stellen sie zehn Prozent der israelischen Bevölkerung, mehr als ein Viertel aller israelischen Erstklässler sind bereits ultra-orthodox.

Weil orthodoxe Männer nach der bisherigen Regelung so lange vom Armeedienst ausgenommen wurden, wie sie als Vollzeitstudenten in einer Religionsschule eingeschrieben waren, ergriffen viele nie einen Beruf und zahlten keine Steuern. Wenn sich nicht bald etwas ändere, würden in Israel bald nur noch 35 Prozent der Bevölkerung Steuern zahlen und Militärdienst leisten, warnte der stellvertretenden Finanzminister Mickey Levy jüngst. Die neue Chefin der Nationalbank, Karnit Flug, brachte ihre Sorgen schon am ersten Tag ihrer Amtszeit zum Ausdruck: „Das ist eine strategische Bedrohung für die israelische Wirtschaft und die israelische Gesellschaft – eine Bedrohung, die wir nicht ignorieren dürfen.“

An Warnungen fehlt es also nicht, wohl aber an tragfähigen Lösungskonzepten. Das liegt auch an den verhärteten Fronten. Viele Säkulare kommen sich so übervorteilt vor, dass sie die orthodoxen „Drückeberger“ am liebsten gleich hinter Gitter bringen wollen. Und auf der anderen Seite wollen sich die Vertreter der angeblich reinen orthodoxen Lehre nun unter ganz großem Geschrei von ihren lieb gewonnen Privilegien trennen.

Ein Angestellter hat einen niedrigeren Status als ein Religionsstudent

Dan Ben David ist Wirtschaftswissenschaftler und der Direktor des Taub Zentrums für Sozialstudien. Er wirft im Gespräch mit so vielen Zahlen um sich, dass man beim Mitschreiben fast nicht mehr mitkommt. Die Arbeitslosigkeit in Israel sei relativ niedrig, merkt er an. Doch die Zahl jener, die nicht nach Arbeit suchen und deshalb gar nicht auf den Arbeitsmarkt drängten, sei mit 20 Prozent eben fast doppelt so hoch wie im OECD-Durchschnitt. „Es ist doch pervers: Charedim in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten sind ganz normal erwerbstätig. Nur bei uns soll der Staat das lebenslange Thorastudium finanzieren!“, erregt er sich. Selbst der neue Trend zum orthodoxen Fundamentalismus sei eine israelische Erfindung: Der bekannte Elektronikladen B&H in New York gehöre ultra-orthodoxen Juden, die dort überhaupt kein Problem damit hätten, auch säkulare Frauen zu bedienen. Das Problem beginne schon in der Schule: „Die Religiösen bekommen einfach nicht die Fähigkeiten vermittelt, um in einem modernen Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben.“

Fragt man Chaim Bleich, was er denn in der Schule gelernt habe, antwortet er mit dem Brustton der Überzeugung: „Alles, was ich brauche“. Tatsächlich standen Mathematik und Geschichte nur in der Grundschule regelmäßig auf dem Stundenplan. Englisch und Sozialkunde hat er nie gelernt. Seit der achten Klasse hat er sich nur mit dem Studium des Talmuds und der Thora beschäftigt. Immer wieder gab es Forderungen, die staatlichen Subventionen für die ultra-orthodoxen Schulen von der Einführung eines verbindlichen Grundcurriculums abhängig zu machen – und immer wieder scheiterten diese Vorschläge.

Motti Geldstein hat trotzdem Hoffnung. Der Leiter der Organisation „Kemach“ sieht zwar keine Revolution, aber einen langsamen Wandel. Kemach habe in den vergangenen drei Jahren etwa 12.000 Charedim beim Einstieg in den Arbeitsmarkt geholfen, erzählt er. Arbeit werde in der religiösen Gemeinschaft zwar noch immer stigmatisiert, ein Angestellter nehme in der orthodoxen Gesellschaft einfach einen viel niedrigeren Status ein als ein Religionsstudent. „Doch die Zahlen sind ermutigend.“

Tatsächlich waren im Jahr 2011 etwa 45 Prozent der ultra-orthodoxen Männer berufstätig – ein Anstieg von etwa 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Bei den Frauen waren es 2001 schon 47 Prozent, heute sind es immerhin 61 Prozent. Das ist kein Wunder: Die Bildung der Mädchen ist deutlich mehr auf die Praxis ausgelegt. Nach zwölf Jahren religiöser und säkularer Studien folgen oft zwei Jahre einer Berufsausbildung.

Racheli Ganot zum Beispiel hat mit 16 Jahren ihren ersten Computerkurs belegt. Das gefiel ihr, sie wollte tiefer einsteigen. Heute ist sie die Mutter von drei Kindern und die Chefin von Rachip, einem Unternehmen, das Software und Design für Halbleiterhersteller anbietet. 70 ebenfalls ultra-orthodoxe Frauen arbeiten für sie, während die meisten der Ehemänner in ihren Religionsschulen lernen. „Wissen Sie, das ist gut so. Nichts ist wichtiger als das Lernen, und ich würde es nicht anders wollen“, sagt sie.

Schon heute sind 10.000 Religiöse im Technologiesektor beschäftigt

Wer es mit der Eingliederung der Ultra-Orthodoxen in den israelische Arbeitsmarkt ernst meint, muss sensibel vorgehen und viel Geld investieren. Die Schlachtrufe nach einer Kürzung des Kindergeldes für kinderreiche Familien klingen zwar gut, doch die von Premier Benjamin Netanjahu während seiner Zeit als Finanzminister 2003 bis 2005 umgesetzte Maßnahme führte zwar zu einer leichten Zunahme der Erwerbstätigkeit – die Zahl der in Armut lebenden Charedim aber blieb gleich. Mittlerweile subventioniert der Staat jeden ultra-orthodoxen Angestellten für fünf Jahre. Das ist ein Anreiz, den Firmen verstehen.

Bei der Softwarefirma Matrix arbeiten heute 800 ultra-orthodoxe Frauen in der religiösen Siedlung Modiin Illit. Es gibt nach Geschlechtern getrennte Kaffeeküchen und Speisesäle, die Türen haben große Glasfenster, damit Männer und Frauen nie wirklich allein sind, und zwei Rabbiner stehen immer bereit, um wichtige Fragen zu beantworten. Muss man beispielsweise zum Beten eine Pause machen? Nein, das muss man wohl nicht. Aber die etwas kürzeren Arbeitszeiten helfen dabei, die Kinder rechtzeitig von der Betreuung abholen zu können. Der Preis für den Arbeitsplatz in einem Umfeld, das ihren religiösen Anforderungen gerecht wird, ist ein deutlich niedrigeres Gehalt, als ein Programmierer im säkularen Herzlija bekommen würde. Und so wirklich überzeugend klingt es nicht, wenn man das bei Matrix mit dem Hinweis auf die niedrigen Lebenshaltungskosten der Religiösen zu erklären versucht.

Doch das Bemühen, ausgerechnet die orthodoxen Feinde der Moderne zu Teilhabern der Hightech-Nation zu machen, sollte Schule machen, fordert Itzik Crombie. Schon heute seien 10.000 Religiöse im Technologiesektor beschäftigt, sagt der ebenfalls orthodoxe Chef von iSale Global und Organisator der ersten Hightech-Konferenz für ultra-orthodoxe Juden. Selbst die mangelnde Allgemeinbildung ist für ihn kein Hindernisgrund. „Jemand, der jahrelang in einer Religionsschule den Talmud und die jüdische Zahlensymbolik studiert hat, kann auch eine Programmiersprache erlernen“, ist er sich sicher. „Unsere Gehirne sind dafür geradezu geschaffen!“ Dennoch ist der Weg noch lang, es mangelt nicht an Hindernissen und Widerständen. Zu seiner Konferenz habe er natürlich alle ultra-orthodoxen Knesset-Abgeordneten eingeladen, versichert Crombie. Aber keiner sei gekommen.