Wieder ist in Wolgograd ein Sprengsatz explodiert. Mindestens 14 Menschen sterben. In Südrussland wächst vor den Winterspielen die Terrorangst

Wolgograd. Der blutige Doppelanschlag von Wolgograd mit vielen Toten empfinden viele Russen vor den Olympischen Winterspielen als eine „Kriegserklärung“ an den Kreml. „Zeit und Ort sind bewusst gewählt – die Terroristen wollen im ehemaligen Stalingrad, Russlands Schicksalsstadt, dem Kreml vor seinem Prestigeprojekt Olympia die Stirn bieten“, sagt der Politologe Gleb Pawlowski.

Am Montagmorgen detoniert eine Bombe in einem Trolleybus. Mindestens 14 Menschen kommen ums Leben, 28 werden verletzt, darunter ein einjähriges Kind. Die Explosion ereignet sich um 8.23 Uhr Ortszeit (5.23 Uhr mitteleuropäischer Zeit), zur Hauptverkehrszeit. Der Bus Nummer 15 war auf der Fahrt vom Krankenhaus Nummer 25, in das die meisten Opfer des Anschlags vom Sonntag eingeliefert wurden, ins Zentrum der Stadt. Bei der Explosion wird der Mittelteil des Busses nahezu komplett zerstört. Auf den Bildern sieht man das abgebrannte Gerüst, das Dach ist abgerissen, überall liegen Leichen herum. Auf dem Asphalt sind Splitter und Blutspuren zu sehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert in einem Schreiben an Präsident Wladimir Putin ihre „Bestürzung und Abscheu“ über die Anschläge und drückte den Betroffenen ihr Mitgefühl aus. Bundespräsident Joachim Gauck schreibt an Putin, er „verurteile diese hinterhältigen Akte des Terrorismus“. Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verurteilt den Angriff. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts sagt in Berlin, die Bundesregierung setze darauf, dass Russlands Behörden „alles tun werden, um die Sicherheit der Olympischen Spiele zu gewährleisten“.

Wie am Vortag, als ein Sprengsatz im örtlichen Bahnhof detoniert, führt die Spur der Bluttat zu Islamisten in den Nordkaukasus. Putin, dem es in 13 Amtsjahren als Präsident und Premier nicht gelungen ist, völlige Ruhe in die Konfliktregion zu bringen, kündigt nun eine harte Offensive an. Doch schon jetzt tobt in der bergigen Vielvölkerregion ein mörderisches Ringen. Kaum ein Tag vergeht in dem Gebiet 2000 Kilometer südlich von Moskau ohne Meldungen über Gefechte zwischen Kremleinheiten und Extremisten.

Die Lage im russischen Kernland galt lange als stabil – bis zum Beginn einer Anschlagsserie vor vier Jahren. Seitdem wurden vor allem Transportmittel zum Ziel der Extremisten. Auf sie sind die Menschen im größten Land der Erde aufgrund der oft weiten Entfernungen besonders angewiesen. Sprengsätze explodierten in Moskau in einem Flughafen und in der Metro, in Wolgograd im Bahnhof und zweimal im Bus und auch am Gleisbett des Luxuszuges „Newski Express“ zwischen Moskau und St. Petersburg. Stets starben viele Menschen.

Hinter vielen Anschlägen vermutet der Inlandsgeheimdienst FSB den tschetschenischen Top-Terroristen Doku Umarow. Erst vor wenigen Monaten hatte „Russlands Bin Laden“ damit gedroht, die Olympischen Winterspiele im Februar in Sotschi mit Attacken zu torpedieren. Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Umarow ist Russlands Staatsfeind Nummer eins. Putin hatte im September mit Blick auf die Terrorgefahr zu den Winterspielen in einem Interview gesagt: „Ich gehe davon aus, dass unsere Geheimdienste und Sicherheitsbehörden das unbedingt schaffen. Wir müssen alles tun, um den Drohungen ein Ende zu setzen und Terroristen keine Chance zu geben.“ In Sotschi sind die Sicherheitsmaßnahmen bereits jetzt beispiellos verstärkt worden, doch in den anderen südlichen Regionen Russlands sind sie anscheinend bislang nicht ausreichend, um Anschläge zu verhindern. Der Chef des russischen Olympischen Komitees, Alexander Schukow, hält zusätzliche Maßnahmen nicht für notwendig. Was die Olympischen Spiele angeht, seien alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen bereits getroffen.

Sicherheitsexperten in Moskau meinen, dass die Kampfkraft der Terroristen heute nicht mehr reicht für Attentate wie im Moskauer Theater Nord-Ost (2002) oder in der Schule von Beslan (2004). Damals nahmen jeweils Dutzende Bewaffnete zahlreiche Geiseln. Beide Attentate endeten mit zahlreichen Toten. „Die Terroristen sind nicht mehr stark genug für große Kommandoaktionen, sie können aber einzeln immer noch Angst und Schrecken verbreiten – wie in Wolgograd“, meint FSB-Chef Alexander Bortnikow.

Im Frühjahr 2012 schickte Moskau 30.000 zusätzliche Soldaten in die Teilrepublik Dagestan – für Experten ein Zeichen, dass die lokalen Behörden längst nicht mehr Herr der Lage sind. Doch nicht nur mit Panzern versucht der Kreml, die Konfliktregion zu beruhigen. Milliarden pumpt der Staat derzeit in das Gebiet, damit ein geplantes Ski- und Wanderressort künftig „Touristen statt Terroristen“ in die schöne Gegend lockt und dort Arbeitsplätze schafft. Daneben investiert der Oligarch Sulejman Kerimow riesige Summen in Fußballschulen des Erstligisten Anschi Machatschkala, um arbeitslosen Jugendlichen in Dagestan eine Perspektive zu geben – und sie dem Einfluss der Islamisten zu entziehen. Doch Kommentatoren sind skeptisch. Der Kreml schaffe sich mit Geld eine „nordkaukasische Utopie“, meint etwa die Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta“.

Im Nordkaukasus, wo die Lage einem Pulverfass gleiche, finde die Zentralregierung bisher kein Mittel, meint der Radiosender Echo Moskwy. Die Steuergelder, die Moskau jedes Jahr in das Gebiet pumpe, versickerten in den Taschen korrupter Beamter. Menschenrechtler klagen, dass auch Militär, Polizei und Geheimdienst zu brutalen Mitteln griffen. Die Bevölkerung werde so immer weiter radikalisiert.