In einer Art Regierungserklärung fordert Franziskus mehr Befugnisse für die Ortskirchen, Hilfe für die Armen und weniger Spitzfindigkeiten

Rom. Zweimal Post aus Rom, aber es liest sich, als stammten die Briefe von unterschiedlichen Planeten. Im Erzbistum Freiburg hatte es Pläne gegeben, Geschiedenen unter Umständen die Teilnahme an der Kommunion zu gewähren. Der Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, schickte einen unterkühlten Brief an Freiburgs Erzbischof Zollitsch. Darin hieß es kurz und bündig: Die Freiburger Idee stimme „nicht mit der kirchlichen Lehre überein“. Der Entwurf sei „zurückzunehmen“.

Jetzt hat auch der Papst ein Schreiben aufgesetzt. Müllers Chef. Franziskus schreibt, er habe sich entschlossen, den Katholiken weltweit „einige Linien vorzuschlagen“. Er wolle „einladen“, sie zu übernehmen. „Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. (...) In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen ,Dezentralisierung’ voranzuschreiten.“ Was Müller formuliert hatte, war ein Befehl. Was der Papst formuliert, ist eine Anregung. Wer die beiden Dokumente nebeneinanderlegt, bekommt eine Ahnung davon, wie stark sich das Selbstverständnis des Papstes von dem seiner Kurie unterscheidet.

Am Dienstag hat Franziskus sein erstes Apostolisches Schreiben veröffentlicht. Der Text ist nach seinen ersten Wörtern „Evangelii Gaudium“ (lat.: Freude des Evangeliums) benannt. Es geht um den Umgang mit den Armen. Und vor allem geht es um die Frage, wie die Kirche wieder mehr Menschen begeistern kann. Es sind Franziskus’ Kernthemen. „Evangelii Gaudium“ ist daher in der Tat so etwas wie ein Regierungsprogramm des neuen Papstes. Und es klingt so, wie die bisherigen Monate dieses Pontifikats auch schon abliefen: revolutionär.

Technologischer und naturwissenschaftlicher Fortschritt, schreibt Franziskus, hätten zwar wirtschaftlichen Fortschritt und Bequemlichkeit gebracht, doch die sozialen Spannungen seien dadurch nicht weniger geworden, im Gegenteil. Aus dem „Fetischismus des Geldes und der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht“ leitet Franziskus die Bedeutung seiner Kirche ab: „Trotz der ganzen laizistischen Strömung, die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kirche in vielen Ländern – auch dort, wo das Christentum in der Minderheit ist – in der öffentlichen Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuverlässig in Bezug auf den Bereich der Solidarität und der Sorge für die am meisten Bedürftigen.“ Franziskus erwähnt neben hungernden Menschen ausdrücklich Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution sowie ungeborene Kinder, die abgetrieben wurden. Ihnen allen solle die Kirche zur Seite stehen. „Klein, aber stark in der Liebe Gottes wie der heilige Franziskus sind wir als Christen alle berufen, uns der Schwäche des Volkes und der Welt, in der wir leben, anzunehmen.“

Doch stärker als solche allgemeinen Anliegen dürften ab sofort die Passagen diskutiert werden, in denen der Papst konkrete kirchenpolitische Reformen andeutet. Vor allem kommt Franziskus auf sein bereits seit Längerem verfolgtes Anliegen zurück, Rom Kompetenzen wegzunehmen und sie den Ortskirchen in aller Welt zu geben. Er schreibt nun: „Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Umkehr zu folgen.“ Die nationalen Bischofskonferenzen sollen eine Satzung für mehr Eigenverantwortung erhalten, „auch einschließlich einer gewissen authentischen Lehrautorität“. Eine Formulierung von gewaltiger Tragweite: Damit würden die Bischofskonferenzen bevollmächtigt, bestimmte kirchliche und theologische Fragen selbst zu klären. Welche Fragen das wären und ob sogar zentrale Themen wie das Zölibat betroffen sein könnten, wäre dann Gegenstand von Verhandlungen.

Zu dieser Liberalisierung passt Franziskus’ Aufruf, in der religiösen Verkündigung Spitzfindigkeiten zu unterlassen und sich nicht zu sehr an Einzelfragen festzubeißen. Sein Standpunkt, den er an mehreren Stellen des Papiers beschreibt, lautet:

Alle Lehren der Kirche sind richtig– aber es gibt wichtigere und weniger wichtige Lehren. Kleriker neigten dazu, auf bestimmten Prinzipien herumzureiten, und vergäßen darüber die großen Botschaften wie Christi Auferstehung, die Liebe Gottes, die Gnade des Heiligen Geistes und so weiter. „Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über (sexuelle) Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis.“ Später spricht Franziskus von historisch bedingten „Bräuchen“ und „Normen“ der Kirche, die heute ihre Kraft verloren hätten. „Haben wir keine Angst, sie zu revidieren!“

An einer Stelle nimmt der Papst auch indirekt Stellung zur Kommunion für wieder verheiratete Geschiedene. „Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.“ Es ist zu vermuten, dass der Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Müller, wenig Freude an diesem päpstlichen Schreiben hat.