Die in Hamburg lehrende Migrationsrechtlerin Nora Markard über die Rechte von Flüchtlingen und das politische Versagen der Europäischen Union

Hamburg. Derzeit tagen sie wieder, die Regierungen der Europäischen Union. Und natürlich sind die Flüchtlinge ein Thema, die Lage ist nicht nur in Deutschland angespannt. Aber wie sieht eigentlich die Rechtslage aus? Und wie müsste man sie verändern? Darüber sprach das Abendblatt mit der Migrationsrechtlerin Nora Markard.

Hamburger Abendblatt:

Frau Markard, in Hamburg fordern 300 afrikanische Flüchtlinge ein Bleiberecht, der Senat bezieht sich auf die Dublin-II-Verordnung, nach der Flüchtlinge nur in dem Land Recht auf Schutz haben, in dem sie zuerst europäischen Boden betraten. Gäbe es andere Möglichkeiten?

Nora Markard:

Ja, die gibt es. Zum Beispiel das sogenannte Selbsteintrittsrecht laut Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-Verordnung – das sieht die Möglichkeit vor, dass der Staat, in dem sich die Flüchtlinge aktuell aufhalten, ein Asylverfahren an sich ziehen kann. Damit würde die Tatsache, dass die Flüchtlinge über Italien eingereist sind, hinfällig. Die Verordnung gilt aber nur, wenn schon ein Asylantrag gestellt wurde, was meines Wissens bei den Hamburger Flüchtlingen nicht gegeben ist. Diese Menschen haben in Italien einfach einen befristeten Aufenthaltstitel bekommen und sind dann weitergezogen.

Welche Möglichkeit ergäbe sich daraus?

Markard:

Ich habe gesehen, dass in der Hamburger Sache zwei verschiedene Lösungen diskutiert werden. Einmal Paragraf 23 Aufenthaltsgesetz, das ist die Aufenthaltsgenehmigung durch die oberste Landesbehörde, sie gilt für bestimmte Gruppen von Ausländern aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen. Meines Wissens steht der Hamburger Senat dieser Lösung sehr ablehnend gegenüber. Es gibt dann auch noch die Möglichkeit der Aufenthaltsgenehmigung in Härtefällen, oder aber Paragraf 25 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz: Darin steht, dass jemandem, der eigentlich ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Das wäre vor allem dann relevant, wenn die Personen, um die es geht, aufgrund ihrer Fluchtgeschichte schwer traumatisiert sind und dringend medizinischer Behandlung bedürfen.

Wenn man dem Hamburger Senat zuhört, bekommt man den Eindruck, dass Europa vor allem seine Grenzen schützt, nicht aber die Flüchtlinge. Stimmt das?

Markard:

Das kommt darauf an. Wir haben ja innerhalb der EU gerade erst eine Harmonisierung des Flüchtlingsrechts erreicht, und im Vergleich zur Rechtslage, die vorher in Deutschland herrschte, ist das zum Teil eine deutliche Verbesserung für die Flüchtlinge. Wir haben allerdings gleichzeitig eine deutlich intensivierte Grenzkontrollpolitik, die verhindern soll, dass die Flüchtlinge Europa überhaupt erreichen. Wenn es keine legalen Möglichkeiten der Einreise gibt, bleibt den Menschen nur der illegale Weg, und der ist meist lebensgefährlich. Die EU ist offenbar bisher nicht ausreichend gewillt, das Mittelmeer in einer Art und Weise zu kontrollieren, die tödliche Katastrophen wie jüngst vor Lampedusa verhindert.

Also eher Schutz der Grenzen?

Markard:

Ich möchte es so sagen: Wir haben durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klargestellt bekommen, dass die Staaten, die das Mittelmeer überwachen, verpflichtet sind, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Auch dafür ist gerade das neue Überwachungssystem Eurosur beschlossen worden. Trotzdem kann man sich fragen: Wie kann es immer noch zu solchen Katastrophen kommen? Da liegt meines Erachtens ein sträfliches Unterlassen vor. Es ist ja bekannt, dass die Menschen kommen, und es ist bekannt, auf welchen Routen sie kommen, und dass sie jämmerlich im Meer ertrinken, ist nicht nur in juristischer Hinsicht nicht hinnehmbar.

Warum gibt es in der EU keine einheitlichen Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen?

Markard:

Das wird derzeit oft behauptet, aber Fakt ist, dass die EU seit 2001 das Asylrecht harmonisiert hat. Die erste Phase ging bis 2005, die zweite Phase haben wir gerade abgeschlossen. Kernpunkt ist die sogenannte Qualifikationsrichtlinie: Sie schreibt Mindestkriterien bei der Anerkennung von Flüchtlingen vor, beantwortet also die Fragen: Wann ist jemand ein Flüchtling und welche Rechte sind mit diesem Status verbunden? Die Qualifikationsrichtlinie nennt dabei detailliert die Mindestanforderungen, die Staaten können aber auch darüber hinausgehen.

Von einer einheitlichen Flüchtlingspolitik ist Europa trotzdem weit entfernt. Wie gut ist der Kontinent in dieser Frage für die Zukunft gerüstet?

Markard:

In Europa haben wir insbesondere ein Problem, und das Problem heißt Dublin-II-Verordnung. Daraus resultiert ein System, das im Grunde nicht funktioniert: Es schiebt die Verantwortung auf die oft weniger leistungsfähigen Grenzstaaten, also jene Länder, in denen die Flüchtlinge in Europa ankommen. Ein gerechtes und solidarisches Asylsystem sieht anders aus.

Wie zum Beispiel?

Markard:

Wir müssten ein System finden, in dem die Leute nicht unter erbärmlichen Bedingungen in einem Land festhängen, während in anderen Staaten deutlich höhere Ressourcen zur Verfügung stehen. Es müsste ein System sein, das keinen Anreiz gibt, Flüchtlinge fernzuhalten oder sie abzulehnen. Solch ein System könnte zum Beispiel so aussehen: Die Menschen erreichen Europa und suchen sich den Staat selbst aus, in dem ihr Asylverfahren durchgeführt werden soll. Unter den Flüchtlingen gibt es ja etliche, die gut ausgebildet sind, die mehrere Sprachen sprechen. Dass dann aber ein frankophoner Mensch in Polen festhängt, kann niemand ernsthaft wollen. Gleichzeitig müsste ein Ausgleichsschlüssel geschaffen werden, nach dem Staaten, die weniger Asylverfahren durchführen, die anderen finanziell entlasten.

Ist eine Unterscheidung in Flucht und Migration eigentlich noch zeitgemäß?

Markard:

Das ist die Frage. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und auch die Qualifikationsrichtlinie sehen fünf Gründe vor, warum eine Person Flüchtling sein kann: Verfolgung wegen der Rasse, wegen der Religion, wegen der Nationalität, wegen der politischen Überzeugung oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Unter die letztgenannte Kategorie fallen zum Beispiel auch Verfolgung wegen der Geschlechtszugehörigkeit oder der sexuellen Orientierung. Was ist nun aber, wenn ein Mensch vor der Armut in seiner Heimat flüchtet? Oder vor den Folgen des Klimawandels? Im englischsprachigen Ausland wird deswegen inzwischen eher insgesamt von „forced migration“ gesprochen. Wenn etwa die wirtschaftliche Situation in einem Land so ist, dass man dort nicht mehr existieren kann, dann ist zwar möglicherweise keine Verfolgung aus einem der fünf Konventionsgründe gegeben – trotzdem ist es natürlich keine freiwillige Migration. Für die Menschen geht das sehr ineinander über.

In Neuseeland klagt derzeit ein Bewohner des Inselstaates Kiribati, er verlangt Asyl für seine Familie, weil sein Atoll in voraussichtlich 30 Jahren vom Pazifik überschwemmt wird.

Markard:

Auf diesen Prozess schauen Juristen derzeit mit großer Spannung. Der Heimatstaat eines Menschen ist ja unter anderem verpflichtet, mit den Folgen einer Naturkatastrophe oder des Klimawandels angemessen umzugehen, und wenn er dazu nicht in der Lage ist, verletzt er möglicherweise seine Schutzpflichten. Wenn Menschen deswegen in ihrer Existenz bedroht sind, wäre zu prüfen, ob die Folgen des Klimawandels auch diskriminierend auf spezielle Gruppen wirken. Da sind wir aber wirklich am Rande dessen, was bislang akzeptiert ist in der flüchtlingsrechtlichen Dogmatik. Deshalb ist dieser Fall auch juristisch so interessant.

Australien bietet Flüchtlingen Schutzvisa an: Die können aus dem Ausland beantragt werden, sodass die Menschen bei Bewilligung sicher reisen können. Kann das auch ein Modell für Europa sein?

Markard:

Darüber muss Europa sicher nachdenken. Die Situation in den Herkunftsländern wird sich so schnell nicht ändern, und es kann nicht sein, dass Menschen unter Inkaufnahme tödlicher Unglücke das Mittelmeer überqueren müssen, um Schutz zu finden.

Als vor zweieinhalb Jahren der Arabische Frühling begann, war Europa euphorisch. Heute wird es mit den Folgen der gescheiterten Rebellionen konfrontiert. Wie wirkt sich das rechtlich aus?

Markard:

Es gibt zunehmend Kooperationen, die die Mitgliedsstaaten der EU mit den Staaten im Maghreb ausloten, mit Libyen, Ägypten oder Marokko. Diese Länder verhindern stellvertretend für die EU, dass die Menschen ihre Heimat verlassen. Das halte ich für völkerrechtlich sehr problematisch. Es ist ein Menschenrecht, jedes Land zu verlassen einschließlich seines eigenen, und die EU vereinbart, dass Staaten gegen diese Rechte verstoßen. So kann es beim besten Willen nicht laufen.