Premier Letta gewinnt die Vertrauensabstimmung. Ex-Ministerpräsident muss einlenken, weil seine Parteigenossen den Gehorsam verweigern

Mailand. Die Bilder zieren die Titelseiten sämtlicher Zeitungen Italiens. Sie zeigen einen leidenden Silvio Berlusconi. Er bedeckt mit der Hand seine Stirn. Er hält seine Hände wie im Gebet vors Gesicht. Er umfasst seine Wangen. Gegengeschnitten werden Aufnahmen von Enrico Letta. Er grinst, den Blick hat er nach oben gerichtet. Er macht das V-Zeichen. Die Botschaft ist eindeutig: Berlusconi hat verloren, Letta gewonnen. Eine historische Niederlage, ein historischer Sieg.

Was am Mittwoch geschehen ist, versetzt ein ganzes Land in ungläubiges Staunen. Berlusconi, der seit 20 Jahren die italienische Politik bestimmt, wollte die Regierung von Ministerpräsident Letta stürzen. Die fünf Minister seiner Partei Popolo della Libertà (PdL) forderte er zum Rücktritt aus dem Kabinett auf. Doch seine Mitstreiter meuterten. Zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten verweigerten sie ihm die Gefolgschaft. Bei der Vertrauensabstimmung blieb Berlusconi nichts anderes übrig, als in letzter Minute die Kehrtwende zu vollziehen. Er stellte sich hinter Letta. Eine Blamage, eine Demütigung für den Cavaliere. „Die Regierung hat den Test bestanden, die Kampfansage zurückgeschlagen“, erklärte Staatspräsident Giorgio Napolitano.

Das politische Spektakel hat etwas von einem Waterloo, das einem neuen politischen Zeitalter den Weg bereiten könnte. Die Rede ist von einer dritten Republik. Die erste nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von der Democrazia Cristiana (DC) beherrscht. Die DC regierte quasi pausenlos in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren. Sie erwies sich als eine Meisterin der Macht, in der alle Antikommunisten aufgingen. Sie war ein Sammelbecken für Katholiken, Liberale und Konservative. Anfang der 90er-Jahre brach das System im Korruptionsskandal Mani pulite zusammen, inklusive der DC. Auf den Trümmern der ersten Republik erschien Berlusconi. Mit seiner Bewegung Forza Italia sprach er von Freiheit und gewann die Parlamentswahlen 1994, 2001 und 2008. Ständig wurde sein Ende prophezeit, doch er kehrte stets zurück. Diesmal vielleicht nicht. Eine dritte Republik könnte entstehen. Mit einer politischen Mitte und Rechten, die sich aus dem Griff Berlusconis befreien.

All das steht im Konjunktiv. Bislang gibt es nur wenig Gewissheiten. Fest steht, dass die Regierung Letta gestärkt aus dem Debakel des Cavaliere hervorgeht. Sie kann nun in den kommenden Monaten auf eine Mehrheit bauen, die aus den Sozialdemokraten und dem gemäßigten Flügel der PdL besteht. Für die Erpressungsversuche Berlusconis ist sie weniger anfällig. Die gewonnene Stabilität ist dringend nötig, denn Mitte Oktober muss das Haushaltsgesetz auf den Weg gebracht und mittelfristig das Wahlrecht reformiert werden. Das aktuelle wird „Porcellum“ genannt, was so viel wie Schweinerei bedeutet. Es verhindert, dass die Bürger über Kandidaten abstimmen können, und verschafft dem Sieger einen überbordenden Mehrheitsbonus.

Delikate Unternehmenskrisen müssen ebenfalls gemeistert werden. Da ist der Konzern Telecom Italia, bei dem die spanische Telefónica die Kontrolle übernehmen will. Madrid würde sich so automatisch auch das Telefonnetz sichern, was in Rom Ängste auslöst. Da ist Alitalia. Die Fluggesellschaft, die 2008 von einem Konsortium italienischer Unternehmer aus der Pleite geholt wurde, steht fünf Jahre später erneut vor dem Zusammenbruch. Air France könnte die Airline übernehmen. Im Gegenzug fordern die Franzosen aber Geld und Garantien von Italien. Auch aus europäischer Sicht wäre es von Vorteil, wenn die Regierung Letta hält. Denn in der zweiten Jahreshälfte 2014 übernimmt Italien die europäische Ratspräsidentschaft. Fest steht auch, dass Berlusconis Alleinherrschaft über die PdL nun infrage steht. Der Meister der Taktik und überraschenden Wendungen, der nichts dem Zufall überlässt und stets die Umfragen im Blick hat, hat sich auf atemberaubende Weise verzockt. Als er der Regierung den Rücken kehrten wollte, folgte er den Einflüsterungen eines kleinen Kreises in seiner Partei, zu dem Denis Verdini und Daniela Santanchè gehören. Es ist ein Zirkel der Extremisten, die kategorisch gegen die Koalition mit den Sozialdemokraten wettern.

Berlusconis Zögling Alfano will sich von seinem Meister emanzipieren

Dass Berlusconi ihren Rat befolgt und die Stimmung in der Partei missachtet hat, mag dem Umstand geschuldet sein, dass er sich wegen diverser Prozesse in die Ecke gedrängt fühlt. Nach seiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zu einer Haft von vier Jahren droht ihm der Rauswurf aus dem Parlament. Am heutigen Freitag stimmt ein Senatsausschuss darüber ab, ob er seinen Sitz abgeben muss. Das Votum ist noch nicht bindend, da darüber noch das Senatsplenum befinden muss. Abwenden lässt sich der Ausschluss aus dem Parlament aber kaum mehr.

Ob Berlusconi seine zentrale Stellung im Mitte-rechts-Lager verliert, ist indes höchst ungewiss. Alle Versuche in den vergangenen Jahren, einen Block ohne Berlusconi zu formen, sind gescheitert. Pier Ferdinando Casini und Gianfranco Fini sagten sich von ihm los und erlitten Schiffbruch. Als Letzter versuchte sich Mario Monti daran, eine Gruppe aus Moderaten um sich zu sammeln. Doch der Ex-Premier eines Technokratenkabinetts fiel beim Wähler im Februar durch. Seine Gruppierung Scelta Civica, bei der Casini, Fini und Ferrari-Präsident Luca di Montezemolo mitmachen, zündete nicht.

Als Nächster darf sich nun Angelino Alfano versuchen. Der Vizepremier ist der Zögling Berlusconis und war ihm immer treu ergeben. Ende 2012 aber sprach er sich plötzlich für Vorwahlen in der PdL aus, um den Spitzenkandidaten für die Parlamentswahlen zu küren. Berlusconi pfiff ihn zurück und trat selbst an. Fast ein Jahr später unternahm er nun einen neuen Versuch, aus dem Schatten Berlusconis zu treten, und scharte eine Gruppe von Rebellen um sich. Rund 23 Abtrünnige waren es im Senat, 26 im Abgeordnetenhaus. Mindestens. Berlusconi musste klein beigeben.