Ex-Premierminister und Putin-Gegner Michail Kassjanow appelliert an die EU-Politiker, den Olympischen Spielen in Sotschi fernzubleiben

Moskau. Wladimir Putins Russland ist nicht sein Russland. Das Russland, das die Musikerinnen von Pussy Riot ins Gefängnis warf. Das Russland, das mit Härte und Gewalt gegen die Demonstranten am Vortag der erneuten Amtseinführung des Präsidenten im vergangenen Mai vorging: „Jeder weiß, dass diese Leute unschuldig sind“, sagt Michail Kassjanow, Ex-Premierminister und heute Co-Vorsitzender der liberalen Oppositionspartei RPR-Parnas. „Aber an ihnen soll ein abschreckendes Exempel statuiert werden.“

Den „Primat des Machterhalts vor der Freiheit und vor Menschenrechten“ will er nicht akzeptieren: „Das spiegelt eine Mentalität des vorvergangenen Jahrhunderts wider“, sagt er. Er hofft auf Unterstützung aus dem Ausland. Er tut das recht konkret, denn bald gibt es Gelegenheit für Regierungschefs aus der ganzen Welt, Stellung zu beziehen. Die Olympischen Winterspiele in Sotschi am Schwarzen Meer, so fürchtet die Opposition, könnten ein gigantischer PR-Erfolg für den Präsidenten werden.

Michail Kassjanow fordert deswegen einen Boykott der Spiele – nicht von Sportlern, sondern von Politikern: „Wir wollen keinen EU-Regierungschef sehen, der nach Russland kommt und Putin zu gelungenen Spielen gratuliert“, sagt er. Das würde nur als Unterstützung des Präsidenten gesehen werden – und als Zeichen, dass Gewalt gegen Demonstranten, dass auch die Anti-Schwulen-Gesetzgebung ohne Antwort bliebe. „Hört endlich auf, Putin zu küssen und zu umarmen“, sagt Kassjanow. „Er darf keinen Freifahrtschein für Menschenrechtsverletzungen bekommen.“

Der Aufruf hat ein Vorbild: Bei der Fußball-Europameisterschaft im vergangenen Jahr ließen sich weder EU-Vertreter noch EU-Regierungschefs in der Ukraine, neben Polen Ausrichter des Wettbewerbs, blicken. „Die Olympischen Spiele sind für Zuschauer und Athleten da, die sich jahrelang hart darauf vorbereitet haben“, sagt Guy Verhofstadt, der frühere belgische Premierminister und heute Chef der Liberalen Alde-Fraktion im Europaparlament.

Kassjanow hat ihn nach Moskau eingeladen, und der Gast versteht die Sorge um eine Politisierung der Spiele: „Wir sollten Präsident Putin keine Chance zu politisch nützlichen Fotos auf dem Silbertablett antragen“, sagt er. Putin hat es zuletzt ohnehin geschafft, sein Land und sich selbst auf der Bühne der Weltpolitik neu zu etablieren. „Er will die westliche Welt glauben machen, sein Regime sei ein ordentliches“, sagt Kassjanow, der bis 2004 vier Jahre lang Premierminister unter Putin war und sich dann überwarf.

Tatsächlich ersparte Putins Syrien-Initiative US-Präsident Barack Obama eine Niederlage im Kongress und der Weltgemeinschaft die Risiken einer militärischen Intervention, zu einem Preis, den Kassjanow für hoch hält: „Die Initiative sieht gut aus, aber sie stinkt“, sagt er. „Der Einsatz von Giftgas ist ein Verbrechen, das bestraft werden muss.“ Die Uno-Resolution gehe darauf nicht ein. „Wir müssten Assad die Chemiewaffen wegnehmen, alle und ab morgen. Dieses Regime aber noch länger zu stützen, wie Putin es tut, ist im 21. Jahrhundert nicht zu akzeptieren.“

Kassjanow hält Putin für gestrig im Geiste. „Putin betreibt alten Paternalismus im Sowjet-Stil“, sagt er. „Er fördert damit den Pessimismus im Land, der sagt: Wandel wird es nie geben.“ Dabei hat der 37 Jahre alte Alexej Nawalny, der von Kassjanows Partei unterstützte Kandidat für die Bürgermeisterwahlen, in Moskau Anfang September 27 Prozent der Stimmen geholt. Ein Ansporn für die Opposition, Kräfte zu bündeln.

Kassjanow hofft nun, „die Partnerschaft mit Nawalny zu konsolidieren“ – bis zum Herbst kommenden Jahres, wenn die Moskauer Stadtduma gewählt wird: „Da ist etwas möglich.“