Die Muslimbrüder in Ägypten sind zu allem bereit. Die Armee auch. Auf Kairos Straßen und in anderen Städten des Landes herrscht Bürgerkrieg

Kairo. Ägypten im Ausnahmezustand. Zunächst für einen Monat. Verlängerung nicht ausgeschlossen. Es wird geschlagen. Es werden Autos und Kirchen in Brand gesetzt. Und es wird geschossen. Seit sechs Uhr Mittwochmorgen liefern sich Armee und Polizei mit den Muslimbrüdern Straßenschlachten und Feuergefechte. Tote und Verletzte werden im Minutentakt in Krankenhäuser abgeliefert. Das Gesundheitsministerium gibt in einer ersten Bilanz 95 Tote und 874 Verletzte an – Tendenz steigend. Am späten Abend berichtet das Ministerium von mindestens 278 Toten, darunter 43 Polizisten.

Die Gründe für das Chaos sind vielfältig, der Auslöser eindeutig: Polizei und Armee lösen mit Gewalt die Protestlager der Muslimbrüder am Nahda-Platz und an der Rabaa-al-Adawiya-Moschee in Kairo auf. Die Demonstranten haben die tagelangen Aufforderungen der Polizei, ihre Protestlager friedlich zu räumen, ignoriert. Sie haben gelobt, so lange zu bleiben, bis „ihr“ Präsident Mohammed Mursi wieder in sein Amt zurückkehrt. Der Islamist wurde am 3. Juli auf Weisung von Generalstabschef Abdel Fatah al-Sisi und nach Rücktrittsforderungen von Millionen Ägyptern aus dem Reformerlager vom Militär gestürzt und ist seitdem in Haft.

Dass er je zurückkommen wird, ist unwahrscheinlich. Wochenlang haben ägyptische Politiker und Unterhändler versucht, den Muslimbrüdern eine Plattform für Gespräche und Verhandlungen zu bieten. Doch sie scheiterten. Auch internationale Bemühungen der USA und der EU, den Konflikt friedlich zu lösen, sind fehlgeschlagen. Es musste wohl zum Äußersten kommen. In Ägypten herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Armee umzingelte zunächst die beiden Lager der Mursi-Anhänger mit Panzern und Polizeifahrzeugen. Auf dem Nahda-Platz gingen einige Demonstranten tatsächlich nach Hause, doch die meisten blieben. Schließlich kämpfte sich die Polizei ihren Weg in das Lager mit Tränengas und Gummigeschossen frei. Die meisten Protestierenden flohen in die umliegenden Straßen und Gebäude. Einige wurden festgenommen. Zurück blieben verbrannte Zelte, Müll und – Waffen, verpackt in Kisten und Reisetaschen.

Am Rabaa-Platz ging es nicht so glimpflich aus. Barrikaden, Rauch und Panzer trennten dort die Polizei von den Protestierenden. „Wir haben die Bäume und Zelte in Brand gesetzt, damit die Polizei uns im Rauch nicht sehen kann“, sagt Mohammed Ismail ruhig und gefasst. Der 37-Jährige steht inmitten der Protestmenge, kann allerdings selbst nicht genau sehen, was passiert. Aber hören kann er es: Es wird scharf geschossen. Nach dem Morgengebet ist er gegen fünf Uhr morgens in das Lager gezogen, um gemeinsam mit seinen Muslimbrüdern gegen die ägyptische Armee und für den vermeintlichen Willen Allahs zu kämpfen.

„Wir sind bereit zu sterben. Wir haben keine Angst. Auch meine Familie hat keine Angst. Im Gegenteil, sie sind stolz auf mich, dass ich mich für unsere Ziele einsetze“, sagt er. Mohammed ist verheiratet und hat einen zwei Jahre alten Sohn und eine sechs Monate alte Tochter. Er spricht sehr gut Deutsch, denn er hat in Paderborn drei Jahre lang Maschinenbau studiert und arbeitet nun als Ingenieur in einem multinationalen Unternehmen. Auch Mustafa Mounir, ein Bekannter Mohammeds, hat keine Angst. Der 35-jährige Single ist mit einem Protestmarsch in der Nähe von Nasr City in Richtung der Rabaa-Moschee unterwegs. „Es ist unser Recht zu demonstrieren. Warum sollen wir uns nach denen richten? Es ist ungerecht, uns zu vertreiben“, sagt er. „Wir demonstrieren so lange, bis Allahs Willen durchgesetzt ist. Jeder, der nicht daran glaubt, dass Mursi zurück ins Amt kehrt, glaubt auch nicht daran, dass Allah überhaupt existiert.“

Am Rabaa-Platz hängen große Mursi-Plakate, von denen er mit Zitaten wie „Ich werde euer Leben verbessern“ herablächelt. Ein Jahr lang hatte er Zeit, sein Versprechen umzusetzen. Stattdessen ist das Land nun noch tiefer verschuldet, die Wirtschaft ist beinahe zum Stillstand gekommen. Die Bahn ist für viele Menschen lebenswichtig für die Ausübung ihres Berufs. „Seine“ Verfassung ist deutlich nach islamistischen Prinzipien und weniger nach den demokratischen Ideen der ersten Revolution ausgerichtet. Für seine vielen Millionen Gegner hat er versagt, weil Ideologie ihm wichtiger war als das Wohl der Ägypter, aller Ägypter. Bis zum Mittag gelang es Polizei und Armee nicht, in die dichte Menge einzudringen. Immer wieder wurde aus der Menge heraus mit scharfer Munition geschossen. „Die Muslimbrüder sind gefährlich. Wenn sie friedlich wären, dann wäre nie Gewalt ausgebrochen“, sagt Magda Zuher. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie das Ministerium für Religion stürmen wollten. Gott sei Dank kam die Polizei rechtzeitig und hat sie vertrieben und festgenommen.“ Die 47-Jährige lebt in Kairos Innenstadt und blickt direkt auf das Ministerium.

„Wir fürchten uns davor, dass die Muslimbrüder das Gleiche tun wie 1952.“ Damals zerstörten sie Restaurants, Geschäfte, Kinos, Straßenbahnen und haben das gesamte Land in Brand gesetzt. „Ich hoffe, die Armee wird so schnell wie möglich eine Ausgangssperre verordnen. Sie müssen das Schlimmste verhindern. Das müssen sie einfach“, sagt Magda und hält ihren Atem an. Die internationale Organisation der Muslimbrüder hat angeblich ihre Anhänger aufgefordert, im Falle einer Räumung der Protestlager das gesamte Land in Brand zu stecken. Zeitgleich mit dem Vordringen der Polizei und Armee überfielen die Muslimbrüder Kirchen und Polizeibüros in mehreren Provinzstädten. Einige Kirchen brannten vollkommen aus. Im Kairoer Viertel Mohandessin stürmten und belagerten sie die große Mustafa-Mahmoud-Moschee und errichteten Barrikaden aus Bordsteinen. Polizeiwagen gingen in Flammen auf, ihre Fahrer wurden teilweise misshandelt.

Mohammed und seine Muslimbrüder wissen, was sie tun. Sie tun es aus religiös-dogmatischer Verblendung. Ihr Ziel ist klar, und sie setzen sich mit allen Mitteln dafür ein. Jeden Abend warten Mohammeds Frau und die Kinder in einer Mischung aus Angst und Verzweiflung darauf, ihn wiederzusehen. Wenn er einmal nicht zurückkommen sollte, werden sie ihn im Paradies wiedersehen. Davon sind sie überzeugt.