Mindestens 36 Menschen bei Straßenschlachten gestorben

Kairo. Ägypten sucht nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi einen politischen Neuanfang – die Bildung einer Übergangsregierung zieht sich jedoch in die Länge. Religiöse Kräfte in der Anti-Mursi-Allianz blockierten die Bestellung von Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei zum Ministerpräsidenten. Bei Ausschreitungen nach Massenprotesten gegen Mursis Absetzung kamen am Freitag und in der Nacht zum Sonnabend nach Angaben des staatlichen Ambulanzdienstes mindestens 36 Menschen ums Leben, davon 16 durch Schüsse. Mehr als 1100 weitere Menschen erlitten Verletzungen.

Kairoer Medien hatten die Ernennung al-Baradeis zum Chef der Übergangsregierung am Sonnabendabend zunächst bereits als Faktum vermeldet. Ein Sprecher von Übergangspräsident Adli Mansur dementierte jedoch Stunden später die Berichte. Die Verhandlungen über die Bildung der Übergangsregierung gingen am Sonntag weiter. Die Übergangsregierung soll bis zu Neuwahlen in Ägypten im Amt bleiben.

Al-Baradei, der 2005 als Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, hatte – wie andere politische und religiöse Führungspersönlichkeiten auch – Mursis Absetzung befürwortet. Vor allem im Westen gilt al-Baradei seit Langem als Hoffnungsträger für den Transformationsprozess. Er ist der Führer der säkularen Nationalen Rettungsfront.

Widerstand gegen den Ex-Diplomaten kommt aus den Reihen der salafistischen Nur-Partei (Partei des Lichts). „Es geht nicht an, die Macht des Ministerpräsidenten in die Hände eines Mannes zu legen, der nicht unsere Vision von der islamischen Scharia (Religionsgesetz) teilt“, erklärte der Al-Nur-Vizevorsitzende Bassem al-Saraka am Sonntag im TV-Sender Al-Hajat. Die ultrakonservative Nur-Partei war früher mit der Muslimbruderschaft verbündet, aus der Mursi stammt. Zuletzt schloss sie sich aber der Oppositionsallianz gegen den am Mittwoch vom Militär abgesetzten Präsidenten an.

Ex-Präsident Mursi müsse mit Würde behandelt werden, forderte al-Baradei

Al-Baradei warnte nach dem Umsturz vor einer Hexenjagd in Ägypten. „Niemand darf ohne triftigen Grund vor Gericht gestellt werden“, forderte er in einem Interview mit dem Magazin „Spiegel“. Mursi müsse mit Würde behandelt werden. „Das sind die Voraussetzungen für eine nationale Versöhnung.“ Nach Einschätzung al-Baradeis muss auch die islamistische Muslimbruderschaft Teil dieses Versöhnungsprozesses sein. „Die Muslimbrüder sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft.“

Die Islamisten finden sich jedoch nur schwer mit ihrer Entthronung ab. Die Auseinandersetzung zwischen ihnen und den neuen Machthabern war am Freitag eskaliert. Der von den Religiösen ausgerufene „Freitag der Ablehnung“ gipfelte in landesweiten Massendemonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmern. In der Nähe des zentralen Tahrir-Platzes in Kairo prallten in den Abendstunden Anhänger und Gegner Mursis aufeinander, um sich heftige Straßenschlachten zu liefern. Zu Zusammenstößen kam es auch in Alexandria, Suez und in Al-Arisch auf dem Sinai. Bei neuen Ausschreitungen in der Nacht zum Sonntag wurde rund ein Dutzend Menschen verletzt – Tote waren keine zu beklagen.

Extremisten sprengten eine Pipeline, die Gas nach Jordanien transportiert

Im Norden des Sinai entglitt den Behörden die Kontrolle: Hunderte Islamisten stürmten in der Nacht zum Sonnabend den Sitz des Gouverneurs in Al-Arisch. Extremisten sprengten am Sonntag eine Pipeline, die Gas nach Jordanien transportiert. Es war der erste Anschlag auf das Leitungsnetz, das Jordanien und Israel mit Gas versorgt, seit einem Jahr. Am Sonnabend erschossen Extremisten in Al-Arisch einen koptisch-orthodoxen Priester.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) will die weitere Unterstützung für Ägypten von demokratischen Fortschritten abhängig machen. Die bisherigen Errungenschaften der Revolution wie Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Schutz vor staatlicher Willkür dürften jetzt nicht preisgegeben werden, sagte Westerwelle am Sonntag in Berlin. „Das ist für uns der Maßstab, an dem wir die neue Staatsführung in Kairo messen.“

Auch Bundespräsident Joachim Gauck forderte die Rückkehr zu einer Regierung mit demokratischen Standards. Am Rande seines Besuchs in Finnland äußerte er zugleich Verständnis, dass „in einer Situation, in der ein Bürgerkrieg droht, außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden“.

Der aus Ägypten stammende einflussreiche Fernseh-Prediger Jussif al-Karadawi forderte indes die Wiedereinsetzung Mursis. Der Sturz des Islamisten durch die ägyptische Militärführung sei verfassungs- und glaubensrechtlich „ungültig“, schrieb al-Karadawi in einer Fatwa (Rechtsgutachten), die er auf seiner Website veröffentlichte. Al-Karadawi, der im Golfemirat Katar lebt, gilt als Vordenker der Muslimbruderschaft.