Militär setzt Staatschef ab und die Verfassung vorübergehend außer Kraft. Verteidigungsminister kündigt vorgezogene Präsidentschaftswahlen an

Kairo. Lauter Jubel, Feuerwerksraketen, Autokorsos: Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo sind im Freudentaumel. Die ägyptische Armee hat den Präsidenten und Islamisten Mohammed Mursi entmachtet. Der Präsident des Verfassungsgerichts, Adli Mansur, soll vorläufig die Geschicke des Landes lenken, sagte Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sissi in einer Fernsehansprache. Er kündigte zudem neue Präsidentschaftswahlen und die Aufhebung der im Vorjahr beschlossenen, von den Islamisten ausgearbeiteten Verfassung an. „Die Armee will nicht an der Macht bleiben“, versicherte al-Sissi.

In Kairo wurde die Ankündigung mit Freudenkundgebungen begrüßt. Auf dem Tahrir-Platz, wo sich Zehntausende Mursi-Gegner versammelt hatten, feierten die Menschen schon in den frühen Abendstunden den Abgang des Präsidenten.

Den ganzen Tag über haben Zehntausende auf die erlösende Nachricht gewartet, die am Abend von Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sissi verkündet wurde. Die Armee hat den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi nach nur einem Jahr aus dem Amt gejagt. Damit hat die Protestbewegung ihr Ziel erreicht.

Zuvor hatte Mursi erneut einen Rücktritt abgelehnt und sein Angebot der Bildung einer umfassenden Koalitionsregierung wiederholt. Gleichzeitig suchte die Armeeführung bei einem Krisentreffen mit Vertretern politischer und religiöser Gruppierungen und Parteien nach einem Ausweg aus der Krise. Der außenpolitische Berater von Mursi, Essam al-Haddad, empörte sich: „Lassen Sie uns das, was geschieht, bei seinem richtigen Namen nennen: Militärputsch.“

Am Abend rollten erstmals Panzer durch die Straßen von Kairo. Eines der Ziele: die Kairoer Universität, wo die Mursi-Anhänger weiter demonstrierten und wo es in der Nacht zuvor Schießereien mit 20 Toten gegeben hatte. Die Truppen sollten „Gewaltakte verhindern“, hieß es von offizieller Seite. Hubschrauber kreisten über der Stadt. Mursi-Gegner grüßten lautstark, sobald ein Hubschrauber den Tahrir überflog. Bis zum späten Abend blieb alles friedlich.

Der Verkehr in den Straßen war mäßig, niemand zeigte Anzeichen von Panik. Nachdenklichere Bürger äußerten die Besorgnis, dass die Lage weiter eskalieren könnte. Dass sich die Muslimbruderschaft nicht in die Absetzung „ihres“ Präsidenten fügen und gewaltsamen Widerstand leisten würde. „Ohne Blutvergießen wird es nicht abgehen“, erwartete ein Passant im Zentrum von Kairo. Bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Anhängern und -Gegnern waren schon in den vergangenen Tagen Dutzende Menschen ums Leben gekommen.

Auf dem Tahrir-Platz, dem Epizentrum der Revolution vor mehr als zwei Jahren, herrschte bei der riesigen Menge der Demonstranten den ganzen Tag über Jahrmarktstimmung. Straßenhändler boten Snacks und Sticker an, mit Aufschriften wie „Irhal !“ (Hau ab!), eine Parole, die man schon im Januar und Februar 2011 dem damaligen Autokraten Husni Mubarak entgegengeschleudert hatte. Eine Gruppe von Demonstranten trug einen selbst gebastelten Sarg mit Mursis Konterfei herum. Andere nahmen es ruhiger auf. „Es ist vorbei, er hat ausgespielt, und er weiß es sogar selbst“, meinte der 50-jährige Beamte Osama Bakri, der in den Mittagsstunden, kurz vor Ablauf des Militär-Ultimatums, in einem Straßencafé genussvoll seine Wasserpfeife rauchte. Gefühlte 99 Prozent der Ägypter seien gegen Mursi. Er und die Muslimbrüder hätten den Islam missbraucht. Selbst der Mann, der am Flughafen bei den Autofahrern die Standgebühr kassiert, findet: „Mursi muss gehen. Ich kann keinen ,Bärtigen‘ mehr sehen.“

Der Vollbart bei Männern, wie ihn auch Mursi trägt, ist das Markenzeichen des politischen Islam. Im Nilland vertritt ihn die Muslimbruderschaft, aus der Mursi kommt. Die ideologischen Begrenzungen dieser lange Zeit verbotenen Organisation vermochte er in seiner einjährigen Präsidentschaft nie hinter sich zu lassen.

Die Demonstranten führten immer wieder dieselben Klagen gegen Mursi an: Er habe sich nicht um die Nöte des Volks gekümmert, die Wirtschaft vernachlässigt, nur den Ausbau der eigenen Macht betrieben.

Mursis Anhänger sehen dagegen den Präsidenten als das Opfer einer Verschwörung, die von den angeblich immer noch mächtigen Exponenten des gestürzten Mubarak-Regimes angeführt wird. So meint der Innendekorateur Mohammed Mansu: „Die Polizei und die Armee haben den legitimen Präsidenten verraten.“ Die meisten Ägypter zeigen sich über die Absetzung des Islamisten Mursi jedoch erleichtert. Doch der Coup der Militärs wirft auch zahlreiche Fragen auf. Der Präsident war aus legitimen Wahlen hervorgegangen. Steht die Armee über jedem und allem?

Der Muslimbruder Mursi hatte es allerdings nicht verstanden, als Präsident aller Ägypter zu regieren. Er erwies sich als unfähig, auf Menschen anderer Gesinnung zuzugehen. Das entfremdete ihn von der Mehrheit der Bevölkerung. Eine breite Protestbewegung formierte sich. Die Konfrontation zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten drohte das Land zu lähmen. Die Gegner, unter ihnen die Revolutionäre von 2011, aber auch unzufriedene frühere Mursi-Wähler, riefen das Militär zur Hilfe.

Dieses schritt ein, erneut in der Rolle der vermeintlich über den politischen Niederungen schwebenden Ordnungsmacht. Immerhin erlegten sich die Generäle Zurückhaltung auf. An der Spitze der Interimsregierung steht Verfassungsgerichtspräsident Adli Mansur. Außer dem Verteidigungsminister und Armeekommandanten al-Sissi werden ihr nur Zivilisten angehören.