Die Politik soll den Konflikt zwischen Anhängern der Muslimbrüder und der Opposition innerhalb dieser Zeit lösen. Mehrere Minister geben auf. 16 Tote bei landesweiten Protesten.

Istanbul/Kairo. Rauch steigt aus den Fenstern, die Scheiben sind eingeschlagen. Bürostühle liegen auf der Straße, an manchen Stellen brennt es noch. Am Tag nach den Massenprotesten erobern Demonstranten die Zentrale der Muslimbruderschaft im Kairoer Stadtteil Mokattam. Zuvor hatte es dort eine Schießerei zwischen Islamisten und ihren Gegnern gegeben. Acht Menschen starben. Im ganzen Land zählte das Gesundheitsministerium 16 Todesopfer im neuen Machtkampf zwischen Islamisten und der Opposition.

Die Protestbewegung will die Muslimbrüder nun auch aus der Führung des Landes vertreiben. Bis zum heutigen Dienstag, 17 Uhr, solle Präsident Mohammed Mursi – der aus der Bewegung stammt – abtreten, lautet ihr Ultimatum. Auch die Armee hat der Führung des Landes ein Ultimatum zur Beilegung der Krise gestellt. Binnen 48 Stunden müsse der Konflikt gelöst werden, erklärte die Armeeführung. Die Forderungen des Volkes müssten erfüllt werden. Ansonsten kündigte die Militärführung Entscheidungen an, um den Zustand zu beenden.

Im Arabischen Frühling 2011 dauerten die Proteste in Ägypten 18 Tage, bis Langzeitpräsident Husni Mubarak stürzte. Mehr als 800 Demonstranten starben damals. In den Köpfen vieler Ägypter hat nun ein neuer Countdown begonnen. Wie lange noch wird sich Mursi halten, fragen sie sich.

Wie vor zweieinhalb Jahren strömen wieder landesweit Hunderttausende Menschen auf die Straßen. Demonstrationen in dieser Größe hat es in Ägypten seit den Tagen des Aufstands gegen das alte System nicht mehr gegeben. Und auch heute ist die Zukunft des bevölkerungsreichsten arabischen Landes völlig ungewiss. Die Regierung Mursi gerät zunehmend unter Druck. Fünf Minister gaben am Sonntag ihren Rückzug aus dem Kabinett bekannt. In Kairo und in der Hafenstadt Alexandria solidarisieren sich uniformierte Polizisten mit den Demonstranten und reihen sich mit dem Ruf „Polizei und Volk sind einig“ ein. Mehrere Polizeiführer sprechen zu den Demonstranten. Das weckte Zweifel, ob Mursi sich auf die Sicherheitskräfte verlassen kann.

Mursi selbst hat Fehler eingeräumt und ihre Behebung angekündigt. Er zeigt sich aber entschlossen, im Amt zu bleiben. Ein Berater Mursis nannte drei Möglichkeiten, die Krise beizulegen: „Das Offenkundigste“ seien Neuwahlen zum Parlament. Denkbar seien aber auch ein nationaler Dialog, den die Opposition allerdings verweigere, oder die von Mursis Gegner verlangte Präsidentenwahl, die aber die Demokratie schädigen würde.

Sexuelle Übergriffe auf Tahrir-Platz?

Frauenrechtlerinnen klagen über organisierte sexuelle Übergriffe auf dem Tahrir-Platz. Denen seien mindestens 43 Frauen, darunter eine ausländische Journalistin, zum Opfer gefallen. Die in der Nationalen Heilsfront zusammengeschlossenen liberalen und linken Parteien erklären sich bereits zu Siegern des Machtkampfes. Die USA und die EU raten Mursi zur Machtteilung. Die neuen Massenproteste gegen Mursi sorgen auch für erhöhte Nervosität an den Finanzmärkten. So verteuert sich die Absicherung eines zehn Millionen Dollar schweren Pakets ägyptischer Staatsanleihen gegen Zahlungsausfall um 34.000 auf ein Rekordhoch von 900.000 Dollar, teilt der Datenanbieter Markit mit. Die Aktienbörse in Kairo blieb am Montag geschlossen.

Dennoch unterscheidet sich die aktuelle Situation in Ägypten von der Zeit unmittelbar vor dem Sturz des Dauerherrschers Husni Mubarak: Nach Beginn der Proteste im Januar 2011 hatte sich die ansonsten allgegenwärtige Polizei von den Straßen zurückgezogen. Es kam zu Massenausbrüchen aus den Gefängnissen. Schwerstkriminelle wie auch Islamisten kamen auf freien Fuß. Im ganzen Land wurden Einkaufszentren und Wohnungen geplündert. Aus Angst vor Überfällen bildeten Bürger Milizen. Trotz nächtlicher Ausgangssperren bewachten sie die Straßen zum Schutz ihrer Familien und der Nachbarn. Internet und Telefon wurden vorübergehend abgeschaltet. Das Land war völlig lahmgelegt. Eine derartige Eskalation gibt es in Ägypten derzeit noch nicht.

Zur Zeit der arabischen Umbrüche waren die Muslimbrüder zudem in der Opposition und mehr oder weniger im Untergrund aktiv. Sie waren es, die nach der Initialzündung durch die Jugendbewegung die Massen auf die öffentlichen Plätze brachten. Sie stellten eine gut organisierte Alternative zu dem Regime Mubarak dar. Die derzeitige Oppositionsbewegung hat zwar ein gemeinsames Ziel: die Entmachtung der Muslimbruderschaft. Doch ansonsten sind die Gegner der Regierung sehr verschieden: Unter ihnen sind Linke, Liberale, Islamisten und Mubarak-Anhänger.

Der Rückhalt für Oppositionsführer wie Hamdien Sabahi, Amre Mussa und Mohammed al-Baradei in der Gesellschaft ist nur schwer messbar. Alle drei waren zunächst auch zur Präsidentschaftswahl vor gut einem Jahr angetreten. Der Linke Sabahi schied in der ersten Wahlrunde mit etwa 21 Prozent aus, Amre Mussa kam auf rund elf Prozent. Al-Baradei hatte sich einige Monate zuvor aus dem Rennen zurückgezogen. Das Oppositionsbündnis Tamarod sammelte nach eigenen Angaben bereits rund 22 Millionen Unterschriften für Mursis Rücktritt. Bei der Präsidentschaftswahl hatten 13,2 Millionen Ägypter für ihn gestimmt. Eine starke Kraft sind indes auch die Salafisten. Auch sie kritisieren Mursi, wenn auch aus einem ganz anderen Grund: Ihnen geht die Islamisierung des Landes nicht schnell und konsequent genug voran.