Ägyptens erste Revolution führte zum falschen Ergebnis. Nun soll sie vollendet werden

In Ägypten vollzieht sich derzeit der zweite Akt einer unvollendeten, beziehungsweise fehlgeleiteten Revolution. Denkbar sind mindestens drei Optionen. Das Land am Nil könnte in Chaos und Bürgerkrieg versinken – dies ist natürlich nicht nur für Ägypten die beunruhigendste Aussicht, sondern für die ganze Region. Die Gewalt könnte dann durchaus über die Grenzen nach Israel schwappen.

Möglich ist auch eine dauerhafte Pattsituation zwischen Regierung und Opposition, die das 85-Millionen-Volk politisch lähmen und dringend notwendige Reformen verhindern würde. Präsident Mursi könnte aber auch auf den Druck der Straße eingehen und die islamistische Verfassung sowie seine Regierungspolitik entsprechend liberalisieren. Dabei setzen ihm die ihn tragenden Muslimbrüder allerdings enge Grenzen. Schließlich könnte die massivste Protestwelle in der Geschichte Ägyptens auch zu Neuwahlen führen, die die Muslimbrüder von der Macht entfernen könnten.

Deren Aufstieg zur Regierungsmacht im bedeutendsten arabischen Staat ist ein politisches Paradoxon. Jene Millionen vor allem junge Ägypter, die den autoritären Pharao Mubarak geradezu aus dem Amt hebelten, waren Teil einer durch und durch säkularen Revolution. Die Muslimbrüder, die sich bereits 1928 in Ägypten unter Hasan al-Banna als erste islamistische revolutionäre Bewegung gegründet hatten, verschliefen den Aufstand zunächst und mussten politisch zum Jagen getragen werden.

Dass sie sich plötzlich an der Macht wiederfanden, war zwei Umständen geschuldet: Zum einen waren die lange verfolgten Muslimbrüder die einzige Oppositionsbewegung, der es gelungen war, im Untergrund eine schlagkräftige Struktur zu etablieren. Daher konnten sie sich aus dem Stand gut organisiert für die Wahlen aufstellen. Zum anderen aber hatte die enge Bindung des verhassten Dauerdespoten Mubarak an den Westen – namentlich an die USA, die seine Herrschaft jährlich mit Milliarden Dollar unterstützen – westliche Werte vergiftet. Von den Muslimbrüdern erhoffte man sich eine gesellschaftliche Öffnung Ägyptens und wirtschaftlichen Aufschwung – ohne sich westlichem Diktat ausliefern zu müssen.

Diese Kalkulation an der Urne ging gründlich schief. Die Muslimbrüder erwiesen sich als unfähig, die marode ägyptische Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Vor allem aber nutzten sie ihre Machtposition sogleich zur Formulierung einer islamistisch geprägten Verfassung, die Ägypten de facto von westlichen Elementen wie Pluralismus, Pressefreiheit und Demokratisierung abschneiden würde. Der zunächst demokratisch gewählte Präsident Mursi schickte sich alsbald an, nur noch die Interessen der Muslimbrüder zu vertreten, die zwar keine Taliban, aber auch nicht sonderlich tolerant sind. „Der Koran ist unsere Verfassung, der Prophet ist unser Führer, der Dschihad ist unser Weg, der Tod für Gott unsere nobelste Wahl“ – dies sind Sprüche, die Mursi gebetsmühlenartig wiederholt hat. Wenn die Angaben der Oppositionsbewegung Tamarod (Rebell) von 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi stimmen, dann wären inzwischen doppelt so viele Menschen gegen ihn als ihn vor einem Jahr gewählt haben. Und wieder sind es die neuen Medien, die Menschen informieren, aus der geistigen Gefangenschaft eines autoritären Systems lösen und miteinander vernetzen.

Ägyptens unvollendete Revolution geht in die zweite Phase. Wenn es zutrifft, dass landesweit 14 Millionen Menschen auf die Straßen gehen, wie die Armee sagt, oder gar 30 Millionen, wie die Veranstalter meinen, dann ist dies einer der machtvollsten Proteste in der Geschichte der Menschheit. Wo diese Reise endet, weiß derzeit noch niemand, klar ist nur, dass die Jahrzehnte der politischen Duldungsstarre in Ägypten unwiderruflich vorbei sind.