Die Opposition will den autoritären islamistischen Präsidenten Mursi aus dem Amt fegen. Aber es fehlt ihr an Alternativen

Kairo. „Wir sind wütend“, sagt Ahmed Mustafa, ein stämmiger Endzwanziger und streicht sein Hemd glatt. „Die Muslimbrüder haben alles ruiniert.“ Seit Sonnabend campiert der Buchhalter aus Alexandria auf dem Tahrir-Platz. Wie lange er hier bleiben wird, weiß er nicht. Es sind 36 Grad, doch scheint ihm die Hitze, die an diesem Mittag bleiern über Kairo hängt, nichts auszumachen. „Wir werden ausharren, bis Mursi weg ist.“

Kämpfen, bis der Präsident fällt: Im Januar 2011 versammelten sich Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz, um die Absetzung Husni Mubaraks zu erzwingen. An diesem Sonntag haben sie sich hier erneut eingefunden. „Mursi raus, Mursi raus“, skandieren die Männer und Frauen nun, schwenken die ägyptische Flagge, halten Plakate hoch, die das Gesicht des neuen Präsidenten zeigen, durchgestrichen mit einem Kreuz. Tausende Protestler folgten dem liberalen Lager, das für den ersten Jahrestag von Mursis Amtseinführung im ganzen Land zu Massendemonstrationen aufgerufen hatte. Ihr Slogan lautet: Tamarud, Rebellion. Der Bewegung haben sich alle Oppositionsgruppen angeschlossen. Sie wollen nichts Geringeres als eine zweite Revolution.

Ein warmer Wind wirbelt Plastikflaschen auf, der Staub trübt die Sicht. Auf einer Matte, darüber ein Leinentuch gespannt, sitzt Hayat Mokhles und lächelt. „Der Tahrir-Platz gehört zu unserem Leben“, sagt die Mittvierzigerin. Seit zwei Jahren kommt die Aktivistin zu Protesten auf den Platz der Befreiung. Erst kämpfte sie gegen Mubarak, dann gegen das Militär, nun gegen Mursi. „Mursi ist ein Diktator wie Mubarak“, sagt sie. „Er ist des Amtes nicht würdig.“ Deshalb hat sie, wie zahlreiche andere Aktivisten, in den vergangenen Wochen Unterschriften für eine Petition gesammelt, die den Muslimbruder zum Rücktritt auffordert. 23 Millionen sollen es den Organisatoren zufolge sein. Genug, sagen sie, um Mursi das Vertrauen zu entziehen. Mursi war 2012 mit 13,2 Millionen Stimmen gewählt worden und hatte nur knapp gegen Ahmad Schafik, den ehemaligen Premierminister unter Mubarak, gewonnen. Ein Protestzug soll die Unterschriften nun zum Präsidentenpalast bringen. Um, so hofft die Opposition, den Weg für Neuwahlen frei zu machen.

Denn längst ist die anfängliche Hoffnung auf Erneuerung bitterer Ernüchterung gewichen. Die Oppositionellen wehren sich gegen die konservative Politik der Muslimbrüder. Viele Liberale werfen Mursi vor, er habe die Ziele der Revolution verraten. Der Präsident und die Islamisten weisen die Kritik zurück: Sie hätten schließlich die freie Wahl gewonnen. So zeigt sich spätestens mit den Protesten am Sonntag: Ägypten ist ein zutiefst gespaltenes Land. Anhänger und Gegner der Regierung stehen sich unversöhnlich gegenüber. In den vergangenen Tagen und Wochen war keines der beiden Lager zu Dialog und Aussöhnung bereit. Führende Geistliche hatten bis zuletzt vor einer Eskalation der Gewalt gewarnt.

Dabei hatte sich die Lage am Nil schon vor den geplanten Demonstrationen zugespitzt. Bei Krawallen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis kamen am Wochenende mindestens drei Menschen ums Leben, mehr als hundert wurden verletzt. Zwei Menschen starben, als Mursi-Gegner in der Nacht zu Sonnabend ein Parteibüro der Muslimbrüder in der Küstenstadt Alexandria stürmten. Ein weiterer Mann starb bei einer Explosion bei Protesten in Port Said. In Kairo hatten sich nach dem Freitagsgebet etwa 20.000 Unterstützer von Mursi vor der Moschee Rabaa al-Adawija versammelt. Redner warfen der Opposition vor, sie werde „aus dem Ausland unterstützt, von Staaten, die nichts Gutes für Ägypten wollen“. Sie unterstrichen, dass Mursi nicht vorzeitig zurücktreten werde.

Die Lebenssituation hat sich für viele Ägypter drastisch verschlechtert: Vor den Tankstellen bilden sich seit Monaten lange Schlangen. Stromausfälle gehören zum Alltag, ebenso wie die Verfolgung Andersdenkender. Die Währung verfällt, die Preise für Lebensmittel steigen. Am vergangenen Mittwoch räumte Mursi in einer Rede ans Volk zwar Fehler ein. Doch zeigte er sich zu keinen Zugeständnissen bereit. Eher noch schürte er den Zorn seiner Gegner, indem er sie als Feinde des Landes und Terroristen bezeichnete. Spätestens seit dieser Kampfansage schlittert Ägypten immer weiter in eine Zerreißprobe, wie sie das Land in seiner jüngeren Geschichte noch nicht erlebt hat.

„Mursi hau ab“ steht auf den Schildern, die sich die Männer um den Hals gehängt haben. Dicht an dicht sitzen sie im Kreis, das Zeltdach spendet Schatten. Sherif Hafez, 48, Brille, graues Hemd, sitzt in der Mitte. „Wie soll es nach dem Fall Mursis weitergehen?“, ruft er in die Runde. „Wir brauchen ein Übergangskomitee, bis ein neuer Präsident gewählt ist“, ruft einer. Kopfnicken. „Wer könnte neuer Präsident werden?“ Hafez blickt in ratlose Gesichter. So zeigt die Protestwelle auch: Mursis Gegner haben zwar an Kraft gewonnen. In den vergangenen Wochen hat die Tamarud-Bewegung eine große Schar von Unterstützern gewinnen können. Und doch: Es fehlt ihnen an Alternativen, an politischen Visionen für die Zukunft.