Vorzeigeland hat seine Rohstoffprofite vor allem in soziale Projekte investiert. Mit großem Erfolg, berichtet Finanzminister Sigbjörn Johnsen

Hamburg. Wenn es um Geld geht, kennt sich Sigbjörn Johnsen auch aus praktischer Erfahrung bestens aus. Gleich nach dem Abitur, Anfang der 70er-Jahre, arbeitete er als Kassierer in einer Bank. Seit 2009 ist der Mann aus Lillehammer Finanzminister von Norwegen – ein Posten, den er schon zwischen 1990 und 1996 bekleidet hatte. Die schwelende Euro-Krise kann Johnsen mit einiger Distanz betrachten – schließlich ist Norwegen weder Mitglied der Europäischen Union noch des Euro-Raumes. „Europa tut wirklich, was es kann, um den Euro zurück auf den richtigen Weg zu bringen“, meint er im Gespräch mit dem Abendblatt. „Ich bin zuversichtlich, dass der Euro überleben wird – allerdings wird es weiterer Maßnahmen bezüglich der Koordination und der gemeinsamen Wirtschaftspolitik bedürfen.“ Die fünf Millionen Norweger gehören zu den reichsten und zugleich zufriedensten Völkern der Welt; zufrieden vor allem mit ihrem hohen Lebensstandard, den ihnen das sprudelnde Nordsee-Öl beschert. Sie sind eng mit der EU verbunden, aber eben nicht Mitglied. Manch anderer Staat blickt neidisch auf das norwegische Modell.

„Das norwegische Wahlvolk hat den EU-Beitritt zweimal abgelehnt, 1972 und 1994“, rekapituliert der Minister. „Die Regierung, der ich angehöre, hat in ihrem Programm einen Passus, der festlegt, dass wir das Thema eines Beitritts daher ruhen lassen. Das ist der Stand der Dinge, und das müssen wir akzeptieren.“ Auf der anderen Seite sei Norwegen seit 1993 Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes (und speist jedes Jahr Hunderte Millionen in die EU-Kassen ein) und dessen Direktiven seien vom Parlament abgesegnet worden. „Darauf ruhen die formalen Beziehungen zur EU, und wir messen diesen Beziehungen eine sehr hohe Bedeutung bei. Für uns ist es wichtig, enge Verbündete in Europa zu haben. Traditionell sind dies die nordischen Staaten und Deutschland, das in vielerlei Hinsicht einer unserer besten Verbündeten ist.“

Aber wie ist denn das Verhältnis zu den Deutschen wirklich sieben Jahrzehnte nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht? „Das war eine schlimme Zeit für Norwegen und war mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit verbunden; man sollte das nie vergessen“, betont Sigbjörn Johnsen. „Aber es gab schon früh den Wunsch nach Versöhnung in Norwegen. Denken Sie nur an unseren späteren Ministerpräsidenten Trygve Bratteli, der mehrere Jahre in deutschen Konzentrationslagern zubrachte und dann buchstäblich unter Leichenbergen hervorgezogen wurde. Bratteli wurde ein überzeugter Pro-Europäer. Oder denken Sie an einen Deutschen, der sich Herbert Frahm nannte und der vor dem Krieg und während des Krieges in Norwegen lebte. Als Willy Brandt wurde er später Bundeskanzler.“ Auch dies trug ganz wesentlich zu einem versöhnlichen Bild der Deutschen in Norwegen bei. Johnsen ist mit einer deutschstämmigen Dänin verheiratet, das Paar hat drei Kinder. Bezüglich der EU räumt Johnsen ein: „1972 habe ich selber noch gegen einen EU-Beitritt gestimmt, aber 1994 dann dafür. Auslöser für meine Meinungsänderung – und die vieler Norweger meiner Generation – war der Fall der Mauer. Plötzlich war der lang gehegte Traum eines friedlich vereinten Europa zum Greifen nahe. Der Mauerfall war ein sehr bewegender Vorgang. Damit trat das Projekt der EU klarer hervor, ein Europa ohne Kriege zu schaffen.“ Nun sagt man, die Norweger hätten schon mit dem Wort „Union“ Problem, weil es sie an die dänische und schwedische Personalunion erinnere … In Norwegen gebe es in der Tat einen starken Drang zur Unabhängigkeit, sagt Sigbjörn Johnsen. Immerhin sei das Land 430 Jahre lang mit den Dänen und 91 Jahre lang mit den Schweden zusammen gewesen. Hinzu kämen spezifische norwegische Interessen bezüglich der Fischerei und der Landwirtschaft. „Auch gibt es den Wunsch vieler Menschen, dass politische Entscheidungen von unserem eigenen Parlament getroffen werden sollten.“

Regelmäßig belegt Norwegen in puncto Bildung und Lebensstandard Spitzenplätze unter den Völkern der Erde. Liegt das nur am Öl? „Die Öleinnahmen geben uns die Möglichkeiten, unter anderem kommunale Ausgaben zu finanzieren“, sagt der Finanzminister. „Doch was letztlich das Schicksal Norwegens bestimmt, ist, wie wir die arbeitende Bevölkerung behandeln. Die Geschichte Norwegens ist vorrangig eine Geschichte der sozialen Inklusion und einer engen Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern. Hin und wieder entbrennt bei uns eine Diskussion darüber, was wir mit den Öleinnahmen machen sollten. Zwischen den frühen 70er-Jahren und 1996 wurde jede Krone aus dem Ölgeschäft für soziale Programme ausgegeben und zudem genutzt, um den öffentlichen Schuldenstand abzubauen.“ In der Rückschau sei jedoch die wichtigste Investition – „geradezu eine soziale Revolution“ – die gesteigerte Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben von rund 45 Prozent auf fast 80 Prozent innerhalb von nur 20 Jahren gewesen. „Es war die profitabelste Investition in die Zukunft aus dem Ölgeschäft, die wir je vorgenommen haben. Der Wert, den diese Revolution und die Arbeitskraft der Frauen darstellen, ist höher als alle Öl-Einnahmen. Das bringt mich zu meinem Hauptanliegen, das ich auch in Reden immer wieder betone: Jedes Land muss die Arbeitslosigkeit bekämpfen, wir müssen junge Leute gut ausbilden und in Arbeit bringen.

Frauenquote in Aufsichtsräten war so etwas wie eine kulturelle Revolution

Es ist der Wert der menschlichen Arbeitskraft, der unsere Gesellschaften bestimmt – jetzt und in der Zukunft“, sagt Johnsen, der selber aus einer Arbeiterfamilie stammt und Politiker der Arbeitspartei ist. Und während in Deutschland noch vielerorts über eine Frauenquote diskutiert wird, hat Norwegen sie bereits 2008 für die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen zwangsweise eingeführt, und zwar mit 40 Prozent. „Die Frauenquote in Aufsichtsräten war so etwas wie eine kulturelle Revolution“, erinnert sich Johnsen, und sie sei am Anfang noch stark diskutiert worden, „aber die Erfahrung zeigt, dass es eine sehr weise Entscheidung war, weil dadurch viel Kompetenz in die Aufsichtsgremien getragen wurde. Wenn fast 80 Prozent der Frauen arbeiten, ist es ja nur natürlich, dass sie auch in die Entscheidungsprozesse eingebunden sind.“

Norwegens Bild eines friedvollen Landes wurde am 22. Juli 2011 durch die Terrorakte des Rechtsextremisten Anders Breivik mit 77 Toten erschüttert. „Die Tragödie hat unser Land in mancherlei Hinsicht verändert“, sagt der Minister. „Sie hat aber vor allem ein Element der norwegischen Gesellschaft herausgestellt, das immer in schweren Zeiten vorhanden war: den sozialen Zusammenhalt, die Solidarität in unserem Volk. Es war eine Folge des Terrors, dass die Menschen in Norwegen diese Solidarität wiederentdeckt haben.“