Der türkische Ministerpräsident droht den Demonstranten mit hartem Durchgreifen. Bundesregierung warnt vor Eskalation der Gewalt

Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan droht den regierungskritischen Demonstranten mit strenger Strafverfolgung, wenn sie ihre Massenproteste nicht unverzüglich beenden. „Ab sofort haben wir keine Toleranz mehr“, sagte Erdogan am Dienstag. Gleichzeitig ging in Istanbul die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen Demonstranten auf dem besetzten Taksim-Platz vor. Erdogan sagte, seine Geduld gehe nun zu Ende. „Wir werden die Aktionen nicht nur beenden, sondern auch sämtliche Provokateure und Terroristen verfolgen. Keiner wird davonkommen“, sagte er in der Hauptstadt Ankara.

Auf dem Taksim schoben Bulldozer Barrikaden und selbst gebaute Hütten beiseite. Einzelne Gruppen von Aktivisten schossen Feuerwerksraketen in Richtung Polizei und warfen Steine und Brandsätze. Polizeiautos und Wasserwerfer gerieten in Brand, wurden aber schnell gelöscht. Den ganzen Tag über kam es auf dem Platz und in umliegenden Straßen immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen.

Der Großteil der Regierungskritiker flüchtete vor der Polizei in den benachbarten Gezi-Park, wo die überwiegend friedlichen Proteste vor knapp zwei Wochen begonnen hatten. Die Polizei hatte dort am 31. Mai eine kleine, friedliche Demonstration gegen die Abholzung des Gezi-Parks am Taksim-Platz aufgelöst. Wegen des harten Vorgehens rollt seither eine Wutwelle durchs gesamte Land, die sich gegen Erdogan und dessen konservativ-religiöse Regierung ganz allgemein richtet.

Die Polizei riss große Banner mit Protestslogans herunter, die an einem Ende des Platzes an einer Fassade hingen. Stattdessen hängten die Beamten dort eine große türkische Fahne auf sowie ein Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, teilte mit, die Entfernung der Protestbanner sei das eigentliche Ziel des Polizeieinsatzes gewesen. Diese hätten den Eindruck erweckt, der Platz sei ein rechtsfreier Raum. Auch sei so das Ansehen der Türkei im Ausland beschädigt worden.

Zugleich versicherte Mutlu am Dienstag via Twitter, die Demonstranten im Gezi-Park hätten vorerst nichts zu befürchten. Dort kampieren seit Tagen Hunderte Aktivisten. Auch sie hatten mit Tränengasschwaden zu kämpfen, die vom Taksim herüberzogen. Erdogan deutete jedoch an, dass auch der Gezi-Park geräumt werden könnte. Er sei schließlich zum Spazierengehen gedacht.

Seit Ende Mai gab es nach Angaben von Ärzten bereits mehr als 5000 Verletzte – viele nach dem Einsatz von Tränengas. Zudem kamen mindestens drei Menschen ums Leben, darunter ein Polizist. Laut Regierung wurden bei den Protesten rund 600 Polizisten verletzt.

Erst am Montagabend hatte die Regierung nach einer Kabinettssitzung Kompromissbereitschaft signalisiert und erklärt, Erdogan wolle sich mit friedlichen Demonstranten treffen und austauschen. Zugleich teilte die Regierung aber mit, „illegale“ Demonstrationen würden nicht länger geduldet.

Erdogan hatte die Demonstranten zuvor mehrfach als „Extremisten“ abgekanzelt, ihnen Umsturzpläne unterstellt und darauf verwiesen, dass mehr als 50 Prozent der Bürger ihn ins Amt gewählt haben. Am Dienstag sagte er, die Proteste würden von „gewissen Finanzinstitutionen und Mediengruppen“ gesteuert, um den Aufstieg der Türkei zu bremsen. Von den Demonstranten erwarte er „als ihr Ministerpräsident“, dass die Proteste beendet werden. In der Nacht waren jedoch auch in der Hauptstadt Ankara wieder rund 5000 Demonstranten auf die Straße gegangen. Wie schon in den Tagen zuvor kamen auch dort Wasserwerfer und Tränengas zum Einsatz.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, kritisierte das Vorgehen der Polizei bei der Räumung des Taksim-Platzes. „Mir macht das große Sorgen, wenn ich den Einsatz der Wasserwerfer und der großen Maschinen sehe“, sagte der FDP-Politiker im Fernsehsender n-tv. Auf keinen Fall dürfe „Gewalt gegen Menschen“ eingesetzt werden. Die Verantwortung dafür liege „bei denjenigen, die politisch das Sagen haben“.

Die Linkspartei forderte die Bundesregierung auf, ihre „Unterstützung für das autoritäre AKP-Regime“ in Ankara zu beenden. Grünen-Chef Cem Özdemir warb für die Fortsetzung der Gespräche über einen EU-Beitritt Ankaras. „Wir dürfen nicht den letzten Hebel zur Unterstützung der Demokratisierung der Türkei aus der Hand geben“, sagte Özdemir der „Stuttgarter Zeitung“. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, plädierte nur für eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei. „Wir brauchen das Land als Mittler“, sagte Mißfelder im TV-Sender Phoenix.