Der türkische Vize-Regierungschef Arinç bedauert die Opfer. Das Militär leistet bei den Demonstranten Erste Hilfe. Die Gewalt bei den Massenprotesten in der Türkei hält an.

Istanbul. Zehntausende Demonstranten im Tränengasnebel, Signalraketen auf Polizeihubschrauber und wieder ein Toter: Die Gewalt bei den Massenprotesten in der Türkei hält an. Eine Straßenschlacht in Istanbul fand in unmittelbarer Nähe des deutschen Konsulats statt, das mit dem Auto nicht mehr zu erreichen ist, weil die Gümüssuyu-Straße davor von mehr als einem Dutzend Barrikaden der Protestierer blockiert ist. Die Polizei versuchte, wie schon in den Nächten zuvor, einen Durchbruch der Demonstranten zum Dolmabahce-Palast zu verhindern. Dort unterhält der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein Büro.

In diese Situation begannen Mitarbeiter des benachbarten Militärkrankenhauses plötzlich, Atemschutzmasken an die Demonstranten zu verteilen. Es war das zweite Mal, dass Angehörige der Streitkräfte den Protestierern halfen. Bereits in der Nacht auf Sonnabend hatten Soldaten offenbar in der Nähe einer Kaserne Sanitätern einen Zugang zu Verletzten verschafft.

Das wirft die Frage auf, auf wessen Seite das Militär eigentlich stehen würde, wenn der Konflikt weiter eskaliert. Die türkische Polizei gilt mittlerweile als ganz und gar politisch von der Regierungspartei AKP durchdrungen. Es sollen dort vor allem viele Anhänger der islamischen Gülen-Bewegung das Sagen haben. Das mag die außerordentliche Brutalität erklären, mit der die Polizei gegen die Demonstranten vorgeht: Wenn Erdogan stürzen sollte, würde es sicher zu einer Säuberungswelle in den Reihen der Polizei kommen.

Es kann kein Zweifel daran herrschen, dass die Militärs Erdogan und überhaupt die AKP-Regierung verabscheuen. Mit Schauprozessen gegen Hunderte von Offizieren brach Erdogan in den vergangenen Jahren dem Offizierskorps den Rücken. Teilweise mit dubiosen Beweisen, begleitet von systematischem öffentlichem Rufmord in den regierungstreuen islamischen Medien, wurde ihnen vorgeworfen, die Regierung stürzen zu wollen. Der Türkeiexperte Gareth Jenkins hat in mehreren Studien akribisch nachgewiesen, mit welch skandalösen Methoden die Staatsanwaltschaft in diesen Prozessen vorging.

Aber gibt es bei den Militärs einen Plan oder zumindest die Versuchung, die Unruhen zu nutzen, um die Regierung zu stürzen? Es war eine bemerkenswerte Entwicklung, als am Montag Schusswechsel zwischen Armeeeinheiten und den Extremisten der PKK gemeldet wurden. Eigentlich ziehen die PKK-Einheiten derzeit aus der Türkei ab, im Rahmen eines „Friedensprozesses“, den Erdogan zusammen mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan initiierte. Es ist die einzige gesellschaftlich integrative politische Strategie, die Erdogan jemals versuchte. Sie zu torpedieren, würde ihm seinen größten Erfolg nehmen – und seine geplante Wahl als Staatspräsident gefährden, da er dafür auch die Stimmen der Kurden braucht.

Nur ein Szenario ist denkbar für eine Militärintervention. Dann, wenn bürgerkriegsähnliche Zustände entstehen sollten. „Aber auch dann nur, wenn es gar keine funktionierende Regierung mehr geben sollte“, sagt Gareth Jenkins. Das setze voraus, „dass sowohl Erdogan als auch Präsident Abdullah Gül stürzen und die Opposition auch nicht führen kann“.

Die Regierung hat sich derweil überraschend auf die Protestierenden zubewegt und ihr Bedauern bekundet. „Ich entschuldige mich bei denen, die Opfer von Gewalt geworden sind, weil sie sich für die Umwelt einsetzen“, sagte Vize-Regierungschef Bülent Arinç. Die Regierung respektiere die „unterschiedlichen Lebensstile“ aller Bürger, betonte Arinç nach einem Treffen mit Präsident Abdullah Gül. Die Entwicklungen seien „aus dem Ruder gelaufen“, nachdem die Sicherheitskräfte „aus dem einen oder anderen Grund Tränengas gegen Menschen mit berechtigten Anliegen einsetzten“. Arinç forderte allerdings zugleich die Demonstranten auf, als „verantwortliche Bürger“ die Proteste nun einzustellen.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hielt sich derweil in Marokko auf. In der Hauptstadt Rabat sagte Erdogan, die Lage in seinem Land beruhige sich „allmählich“. Wenn er am Donnerstag zurückkehre, seien „die Probleme erledigt“. Auslöser der seit Tagen anhaltenden Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei war die gewaltsame Auflösung von Protesten gegen den Bau eines Einkaufszentrums im beliebten Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul am Freitag. Während die Regierung die Zahl der Verletzten mit 308 angibt, kommen Menschenrechtsorganisationen auf rund 1700. Zahlreiche Beschäftigte im öffentlichen Dienst traten als Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten in einen zweitägigen Streik.

Die Vereinten Nationen verlangten eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Europaparlaments-Präsident Martin Schulz (SPD) forderte eine einheitliche Reaktion Europas. „Wir müssen aus Europa den Druck auf die Regierung aufrecht erhalten“, sagte Schulz in der ARD. Wenn die Türkei EU-Mitglied werden wolle, müsse sie demokratische Standards einhalten. Erdogan sei dazu „in bestimmten Momenten nicht in der Lage“.