Profitstreben, gepaart mit islamischen Lebensregeln: Der Ministerpräsident krempelt Politik und Gesellschaft der Türkei um. Auf ein Einlenken Erdogans brauchen die Menschen in der Türkei nicht zu hoffen.

Hamburg. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan weilt in Nordafrika und hat zu Hause ein politisches Trümmerfeld hinterlassen, das auch noch da sein wird, wenn er in einigen Tagen zurückkehrt. Bei den landesweiten Protesten sind die ersten Menschen zu Tode gekommen.

Auf ein Einlenken Erdogans brauchen die Menschen in der Türkei nicht zu hoffen. Für ihn sind die Demonstranten „Dahergelaufene, die wegen ein paar Bäumen“ auf die Straßen gehen. „Extremisten“, die aus dem Ausland gesteuert werden.

Darum hat er schon den Geheimdienst angewiesen, die Verbindungen aufzudecken. Und falls das die Aufsässigen nicht endlich zur Räson bringt, kann er auch die „Millionen seiner Anhänger auf die Straße treiben“, so eine weitere Drohung Erdogans. So viel zum Politikverständnis eines Mannes, der vor Jahren in einer Rede „Demokratie als Mittel zum Zweck“ bezeichnete. Spätestens jetzt sollten auch westeuropäische Regierungschefs verstanden haben, welchen Zweck er meinte: die Alleinherrschaft.

Mit dieser Haltung steht Erdogan aber keineswegs alleine da. Er setzt die unselige Tradition seiner Vorgänger fort, die seit Jahrzehnten Proteste und Demonstrationen niederknüppeln ließen. Er ist das Paradeexemplar einer politisch-autoritären Elite, die das Volk in bedingungslose Anhänger und den feindlich gesinnten Rest einteilt: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Für diese Elite sind die Menschen unmündiges Stimmvieh. Teilhabe und Beteiligung ist dieser Elite fremd. Eine andere Meinung hat man nicht zu tolerieren, sondern zu bekämpfen. Streitkultur als Schlachtkultur.

Aber die Menschen haben die ewige Bevormundung satt. Natürlich geht es um wesentlich mehr als um ein paar Bäume im Istanbuler Gezi-Park. Es geht um den fundamentalen Umbau des Landes, den Erdogan und seine AKP vorantreiben. Unter dem Deckmantel der Modernisierung werden Großprojekte wie die dritte Bosporus-Brücke oder der Bau eines Atomkraftwerks an der Schwarzmeerküste durchgepeitscht. Einwände von Anwohnern und Umweltschützern werden höchstens belächelt.

Ein präsidiales politisches System nach französischem Vorbild soll installiert werden, damit Erdogan dann als künftiger Staatspräsident weiter an der Macht bleiben kann. Denn als Ministerpräsident darf Erdogan laut türkischer Verfassung nicht ein weiteres Mal gewählt werden.

Kritische Medien und Journalisten in der Türkei wurden mit Prozessen und Bußgeldverfahren überzogen. Zumindest bei den großen TV-Sendern hat Erdogan sein Ziel schon erreicht: Während im ganzen Land Tausende auf die Straße gingen, zeigten die Sender Koch- und Kuppelshows. Der Aufstand fand in den sozialen Netzwerken statt, nicht in der Glotze.

Dazu macht den Menschen die immer offenere Islamisierung Sorge: Immer drakonischere Einschränkungen beim Alkoholgenuss oder absurde Schmink- und Kleidervorschriften für Stewardessen der staatlichen Turkish Airlines sind nur die Vorboten. Obwohl es in Istanbul wie auch dem Rest des Landes wesentlich mehr Moscheen als Schulen gibt, soll auf dem Taksim-Platz, dem Epizentrum der Proteste, eine große Moschee gebaut werden.

Mit der Selbstgewissheit eines Sultans setzt Erdogan seine Vision eines islamisch-neoliberalen Staates um, in dem materieller Wohlstand die oberste Maxime ist, nicht Meinungsfreiheit und Bürgerbeteiligung. Das Streben nach Profit ist gottgefällig, nicht Widerspruch.

Eine sehr große Minderheit der Türken ist mit dieser Entwicklung nicht einverstanden und wehrt sich mit demokratischen Mitteln. Und wie es aussieht, werden die Demonstranten sich weder einschüchtern noch als willfähige Handlanger finsterer, ausländischer Mächte diskreditieren lassen. Wie man mit Protesten umgehen kann, dazu können dem türkischen Ministerpräsidenten seine maghrebinischen Gastgeber sicherlich Ratschläge geben. Denn während des arabischen Frühlings hat Erdogan ihnen selbst ungefragt demokratische Lektionen erteilt.