Außenbeauftragte Ashton greift Regierung an. Türkische Gemeinde spricht von Versagen

Berlin/Brüssel. Wegen der anhaltenden Unruhen hat der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, der Türkei Versagen vorgeworfen. Kolat, der sich in Istanbul aufhält, erklärte in einem Gespräch mit der „Welt“: „Der Staat und seine Sicherheitsorgane haben versagt.“ Außerdem übte er harsche Kritik am Vorgehen der türkischen Polizei auf dem Taksim-Platz. Er sei fassungslos angesichts dieser Gewalt. „Sie setzten so viel Tränengas ein, dass ich kaum atmen konnte, obwohl ich 1,5 Kilometer vom Zentrum des Protestes entfernt war.“

Kolat rief Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Appell an den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf. „Sie sollte sich zu Wort melden und die Besorgnis der Europäer und der in Deutschland lebenden Türken angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände in 68 türkischen Städten gegenüber Erdogan zum Ausdruck bringen.“ Er selbst habe am Wochenende telefonisch über das Büro von Staatsministerin Maria Böhmer den Kontakt zu Merkel gesucht.

Merkel verfolgt das Vorgehen der türkischen Polizei gegen oppositionelle Demonstranten mit Sorge. Auf die Frage, wie Merkel die Lage in der Türkei bewerte, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert: „Das Gebot der Stunde ist Deeskalation und Dialog.“ Das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sei ein Grundrecht in einer Demokratie. Rechtsstaatliches Verständnis erfordere, dass die Sicherheitsbehörden stets verhältnismäßig vorgehen. Auswirkungen auf Beitrittsgespräche der EU mit der Türkei gebe es derzeit aber nicht.

„Tief besorgt“ zeigte sich die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Sie bedauerte ausdrücklich die „unverhältnismäßige Gewalt der türkischen Polizei“. Und sie forderte „Zurückhaltung auf allen Seiten“. Das sind ungewöhnlich deutliche Worte gegenüber einem Land, das in einigen Jahren der Europäischen Union beitreten möchte. Erdogans Politik der harten Hand gegen Oppositionelle hilft nach Ansicht von Brüsseler Diplomaten der Türkei auf dem Weg nach Europa nicht weiter.

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth kritisiert die Türkei-Politik der Europäischen Union scharf. Man habe die Türkei nicht gleichberechtigt mit anderen EU-Beitrittskandidaten behandelt und ihr mit der sogenannten privilegierten Partnerschaft immer wieder klargemacht, dass sie eigentlich gar nicht nach Europa gehöre, sagte Roth im Deutschlandfunk. Gleichzeitig kritisierte Roth, dass sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan immer mehr „wie ein absolutistischer Herrscher“ aufführe.