Ministerpräsident Erdogan lässt Demonstranten mit Tränengas bekämpfen und zeigt sich stur. Mehr als 1700 Menschen verhaftet. “Jetzt geht nach Hause“, sagte Erdogan zu den Hunderttausenden.

Istanbul. „Ihr habe eure Proteste gehabt, legal oder illegal. Jetzt geht nach Hause“, sagte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu jenen Hunderttausenden Menschen, die seit Freitag gegen ihn in Istanbuls Straßen und in 40 der 81 türkischen Provinzen demonstrieren. Das erinnerte an seinen Satz vom Sonnabend, als er gedroht hatte, er könne „eine Million“ seiner Anhänger für Gegendemonstrationen mobilisieren.

Kaum hatte er das ausgesprochen, standen wie zum Trotz eine Million Menschen auf der Straße, aber es waren seine Gegner. Und auch am Sonntag schien jedes seiner Worte die Demonstranten zu neuem Eifer anzustacheln: Kaum hatte er etwas von „nach Hause gehen“ gesagt, zogen wieder Zehntausende zum Istanbuler Taksim-Platz. In Ankara setzte die Polizei wieder Tränengas ein. Straßen auch in der Nähe des Regierungssitzes wurden blockiert. Über 1700 Menschen sind am Wochenende verhaftet worden, die meisten von ihnen wurden, wie Innenminister Muammer Güler sagte, nach Überprüfung ihrer Papiere und kurzer Befragung wieder freigelassen.

Es war anders als am Sonnabend. Da schien es fast so, als sei die gesamte Jugend Istanbuls spontan und unorganisiert gekommen. Aber am Sonntag waren es zunächst vor allem organisierte Proteste kleinerer Parteien, die den Platz mit ihren Anhängern füllten. Statt eines gemeinschaftlichen Durcheinanders gab es nun separate Versammlungen, allerdings auf engstem Raum: hier die Kommunisten, da die Kemalisten, andere wieder wollten Anarchie oder Sozialdemokratie. Flaggen mit Parteisymbolen flatterten. Es schien so, als wollten hier die kleineren Parteien des Landes das Momentum der Protestbewegung nutzen, um sich besser vor den TV-Kameras zu positionieren.

Aber Erdogan schaffte es wieder, den Gemeinschaftsgeist der Demonstranten herzustellen, indem er alle daran erinnerte, warum sie ihn nicht mochten. Zwar hatte er von seinem ursprünglichen Plan Abstand nehmen müssen, ein Einkaufszentrum in einem Nachbau einer osmanischen Kaserne auf den Taksim-Platz zu setzen und dafür den alten Gezi-Park samt seines alten Baumbestands einzuebnen. Aber nun sagte er erstens, dass man am Ende doch irgendetwas dorthin bauen würde, man wisse nur noch nicht was, „vielleicht ein Museum“.

Und dann sagte er mit einer Mischung aus Arroganz, Verachtung und Blindheit für die Dynamik der Protestbewegung sinngemäß: Wir werden außerdem eine Moschee auf den Taksim-Platz bauen. Wir brauchen dafür nicht die Erlaubnis der Opposition oder einiger Dahergelaufener. Das half den Demonstranten, so richtig in Stimmung zu kommen. Und es war zugleich ein Beweis dafür, dass Erdogan unter Demokratie wenig mehr versteht als gelegentliche Wahlen.

In Istanbul war keine Polizei in der Nähe der Proteste zu sehen, die Regierung hat seit Sonnabend 16 Uhr jegliche Kontrolle der Innenstadt aufgegeben. Das eigentliche Augenmerk aber lag auch weniger auf Istanbul als auf der Hauptstadt Ankara. Dort ging die Polizei hart gegen die Proteste vor.

Noch ist nicht klar, wohin diese Proteste führen. Sicher wäre Erdogans Regierungspartei AKP immer noch die stärkste politische Kraft, wenn heute gewählt würde. Weniger sicher ist, ob Erdogan persönlich nach diesen Protesten noch immer mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen könnte, die er bräuchte, um wie geplant bei den nächsten Präsidentenwahlen Staatschef zu werden. Als Premier kann er nicht mehr wiedergewählt werden. Es läuft seine dritte und damit letzte Amtszeit. Aber dass eine Revolution im Gange ist, das spürt jeder, der dabei ist und das Land kennt. Freilich, der Taksim-Platz ist nicht das ganze Land. Bei den Protesten waren bislang keine religiös Konservativen zu sehen, keine Frauen mit Kopftüchern, keine Frommen.