In einer Fernsehshow gibt Russlands Präsident Wladimir Putin den Kümmerer, der die einfachen Menschen versteht

Moskau. Die Familie Kusmenko, fast 20 Menschen, sitzt in ihrem Wohnzimmer in Russlands Fernem Osten. Kusmenkos haben 15 Kinder, die meisten sind adoptiert, und heute dürfen sie Fragen an den russischen Präsidenten Wladimir Putin stellen. Die Mutter erzählt über ihre Probleme, darüber, dass sie neulich anderthalb Stunden lang auf den Arzt warten musste, als eines der Kinder einen epileptischen Anfall hatte. Zum Schluss sagt ein Mädchen, dass es von einem Kinderspielplatz für die Familie träumt. Putin redet in einem Moskauer Fernsehstudio über die Unterstützung von Familien mit Adoptivkindern. Das Thema ist politisch wichtig geworden, nachdem Russland US-Bürgern verboten hat, russische Kinder zu adoptieren. Und der Spielplatz für die Familie Kusmenko in der Siedlung Nowoschachtinski wird auch gebaut. „Ich verspreche dir einen Kinderspielplatz, meine Liebe. Wir werden diese Frage lösen, das ist kein Problem“, sagt Putin. Eine Stunde später melden Agenturen, der Sprecher des zuständigen Gouverneurs versichert, dass der Spielplatz gebaut werde.

Das ist eine typische Szene aus Putins jährlicher Show, die am Donnerstag vier Stunden und 47 Minuten dauerte. Die Botschaft lautet: Der Präsident kümmert sich um sein Volk und hört dessen Fragen und Wünschen zu. Der „Heiße Draht zu Wladimir Putin“ hat seine Dramaturgie. Mal wird die Spannung gesteigert, mal macht Putin einen Witz über den Fragesteller. Dieses Jahr versprach Präsidentensprecher Dmitri Peskow schon im Vorfeld, dass die Teilnehmer zum ersten Mal die Möglichkeit bekämen, mit dem Präsidenten zu diskutieren und eine andere Meinung zu äußern. Während der Show im Dezember 2011, als in Moskau Zehntausende gegen Wahlfälschungen protestierten, spielte Putin den Macho und verglich die Opposition mit Affen aus Kiplings „Dschungelbuch“. Nun, ein knappes Jahr nach dem Beginn seiner dritten Amtszeit, nahm er einen ruhigeren Ton an und wollte sich offenbar als jemanden präsentieren, der zur Diskussionen bereit ist. Doch bald wurde klar, dass die Aussprache allein nach Putins Regeln geführt wird.

Die größte Überraschung kam kurz nach Beginn der Sendung. Der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin war ins Fernsehstudio eingeladen worden. Er kritisierte die hohen Staatsausgaben und sprach von institutionellen Reformen, die Russland brauche. Kudrin hatte die Regierung vor zwei Jahren nach einem öffentlichen Streit mit dem heutigen Premierminister Dmitri Medwedew verlassen. Im Winter 2011 sprach er von der Bühne auf einer oppositionellen Demonstration. Er gründete ein „Komitee für bürgerliche Initiativen“ und kritisierte immer wieder die Landesführung. Gleichzeitig hatte Kudrin lange als Putins Vertrauter gegolten und seit einer Woche gab es Gerüchte, dass der Präsident ihm wieder einen Führungsposten im Kreml angeboten hätte.

Putin bestätigte vor laufenden Kameras, dass er Kudrin ein Angebot gemacht habe. „Er hat abgelehnt. Faulpelz. Er will nicht arbeiten“, fügte Putin hinzu. Kudrin erklärte daraufhin, er sei nicht bereit, statt struktureller Reformen mit „manueller Steuerung“ Einzelprobleme zu bekämpfen. Ein „System der Halbheiten und Halbreformen“ könne in Russland nicht funktionieren. „Wir haben kein Programm, um die Abhängigkeit der Wirtschaft von den Ölexporten zu verringern“, sagte er. Putin machte deutlich, dass er Kudrin nur als Finanzexperten schätze, in der ihm angebotenen Rolle hätte er nicht über politische Fragen entscheiden dürfen. Kudrin sei zweimal zum Finanzminister des Jahres gewählt worden, aber „nicht als Minister für soziale Fragen“. Die Szene mit Kudrin, sicherlich geplant, wirkte zwar wie ein Wink an den aktuellen Premier Medwedew, dass Putin auch einen Ersatzkandidaten für ihn hätte. Doch der Präsident lehnte die Forderung ab, die Regierung oder einige Minister müssten zurücktreten. Die Regierung arbeite erst weniger als ein Jahr und müsse eine Chance bekommen. Es gebe keine Trennlinie zwischen der Regierung und der Präsidialverwaltung, was die Wirtschaftspolitik angehe.

Gefragt nach den Beziehungen mit dem Westen warf Putin den USA „imperiales“ Verhalten in der Außenpolitik vor. Die Abkühlung in den Beziehungen habe schon mit dem Krieg im Irak begonnen. Russland und die USA müssten nach dem Anschlag in Boston bei der Terrorbekämpfung zusammenarbeiten. Russland sei auch ein Opfer des internationalen Terrors. „Wenn wie unsere Kräfte vereinen, werden wir solche Anschläge nicht zulassen“, sagte er. Der Westen habe Fehler begangen, indem er tschetschenische Extremisten nicht auf seine Terrorlisten gesetzt habe. Stattdessen hätten die Rebellen im Nordkaukasus politische und finanzielle Hilfe bekommen.

Rund drei Millionen Fragen sind eingereicht worden, und 85 wurden beantwortet. Putin sprach sich gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe aus. Eine härtere Strafe führe nicht zur Ausmerzung der Verbrechen. Er sei gegen Kopftücher in Schulen und für die Schuluniform. Mit Veteranen sprach er über patriotische Erziehung und plädierte dafür, ein einheitliches Geschichtsbuch für russische Schulen zu schreiben. Aber am meisten redete Putin über Korruptionsbekämpfung, Gehälter, Renten, steigende Preise und schlechte Straßen. Er wollte demonstrieren, dass er die Sorgen von einfachen Menschen versteht. „Ich komme selbst aus einer Arbeiterfamilie und habe Respekt vor diesen Menschen. Auf ihren Schultern liegt das ganze Land“, sagte Putin. Und er hat versprochen, am 1. Mai den ersten Orden „Held der Arbeit“ zu verleihen. Diese Auszeichnung hat er vor Kurzem wieder eingeführt.