Berlusconi bringt große Koalition ins Spiel. Nach knappem Wahlausgang blockieren sich die Lager gegenseitig

Rom. Es herrschte Katerstimmung in Italien, als das Land am Dienstagmorgen aus einer turbulenten Wahlnacht aufwachte. Aus den Parlamentswahlen geht eine Situation hervor, die den Appenin erneut zur politischen Instabilität verdammt. Das Mitte-links-Bündnis um den Spitzenkandidaten Pier Luigi Bersani hat eine Mehrheit, die so hauchdünn ist, dass er damit das Land nicht regieren kann.

Und gerade das hatte den Italienern nach einem Jahr wirtschaftlicher Rosskur der Technokraten-Regierung unter Mario Monti, einer dennoch lahmenden Wirtschaft, steigender Arbeitslosigkeit und ständiger Korruptions- und Bankenskandale gerade noch gefehlt. Sie brauchen eine Regierung, auch weil im Mai eine weitere wichtige Wahl bevorsteht: Der Nachfolger für Staatspräsident Giorgio Napolitano muss bestimmt werden.

Der bisherige Regierungschef Mario Monti, selbst einer der Verlierer der Wahl, schickte darum Mitstreiter und politische Gegner am späten Montagabend mit einer Warnung ins Bett: "Die Opfer und Anstrengungen der Italiener dürfen nicht verschwendet werden!" Erst als die Wähler längst schliefen, waren ihre Stimmen endgültig ausgezählt, und so erfuhren sie erst aus dem Frühstücksfernsehen, was das Ergebnis der Wahl ist - Verwirrung. Völlig unklar ist, wer Italien künftig regieren wird.

Es dürfte kaum Pier Luigi Bersani sein, 61, Chef und Spitzenkandidat der Demokratischen Partei und noch bis wenige Stunden vor der Auszählung Favorit für das Amt des Regierungschefs. Am Vormittag war von Bersani noch nichts zu sehen, sein erwarteter Auftritt war flugs auf den Nachmittag verschoben worden. "Er berät sich mit Mitgliedern der Parteispitze", hieß es aus seiner Pressestelle. Bersanis Wahlkampfgegner Silvio Berlusconi hatte zu der Zeit bereits Verhandlungsbereitschaft signalisiert: "Italien kann nicht nicht regiert werden. Jetzt müssen alle Opfer bringen und sich programmatisch annähern", sagte er und warnte vor schnellen Neuwahlen.

Aussicht auf eine große Koalition als Notlösung für Italien? "Wir werden keine Regierung mit jemanden bilden, der für die katastrophale Lage, in der wir uns befinden, verantwortlich ist", konterte umgehend die stellvertretende Vorsitzende der PD, Marina Sereni. Aber die Lösung hat noch einen Gegner.

"Gegen uns geht nichts mehr", erklärte umgehend auch der Komiker Beppe Grillo, der mit seiner "Fünf-Sterne-Bewegung" alle traditionellen Parteien bei den Wahlen überrannt hat. Die Protest- und Anti-Establishment-Partei sitzt jetzt sogar als stärkste Partei im Parlament, im Senat ist sie die zweitstärkste Fraktion. Grillo will einer großen Koalition keine Chance geben.

Das hat auch Bersanis Koalitionspartner und Chef der Partei Linke, Ökologie und Freiheit, Nichi Vendola, begriffen. Er signalisierte die Möglichkeit, Verhandlungen mit Grillo anzustreben, und versetzte damit gleichzeitig Mario Monti einen Seitenhieb, der seinerseits Vendola als koalitionsunfähig angreift. Unerwartet hat auch Silvio Berlusconi mit seinem Rechtsbündnis noch einmal gewaltig aufgeholt: Im Abgeordnetenhaus kam er mit 29,18 Prozent der Stimmen ganz dicht an das Mitte-links-Bündnis von Bersani heran. Ein Ergebnis, das in ganz Europa Erstaunen ausgelöst hat. "Kein Wunder", erklärte dagegen der Historiker Giovanni Orsina von der römischen Elite-Universität Luiss. Er ist Berlusconi-Experte und hat das politische Phänomen "Berlusconismus" jetzt in einem Buch analysiert. "Berlusconi hat sich auf die Seite der Italiener geschlagen, die von jeher mit dem schlecht funktionierenden Staat unzufrieden sind. Es ist ihm gelungen, aus der traditionellen Distanz zwischen staatlicher Autorität und den italienischen Bürgern eine Ideologie zu machen." Diese habe bei Wahlen immer wieder Erfolg - egal welche Wahlversprechungen Berlusconi mache. "Es interessiert die Italiener auch nicht, dass Berlusconi nicht gut regiert hat. Das haben die anderen Regierungen schließlich auch nicht getan. Und die Italiener haben eine atavistische Angst vor dem Staatsapparat, auch vor dem ehemaligen kommunistischen Parteiapparat."

Diesem angehört zu haben hat sich im Wahlkampf für Pier Luigi Bersani nun noch einmal gerächt. Im Abgeordnetenhaus brachte er es mit seinem Bündnis nur auf 29,55 Prozent der Stimmen. Zwar hat Bersani damit - dank einer Wahlprämie für die stärkste Partei - dort eine sichere Mehrheit von 340 Sitzen. Aber die Sitzverteilung in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, ist nun das große Problem.

Auch hier erreichte die Koalition mit 31,6 eine prozentuale Mehrheit. Da das Wahlrecht die Senatssitze aber über regionale Mehrheiten verteilt, reichte das nur für 122 Senatssitze - gerade neun mehr, als sie Berlusconi hat. Das ist keine absolute, sondern nur eine knappe relative Mehrheit, die zum Regieren nicht reicht. Selbst wenn Bersani sich auf die 18 Sitze von Mario Monti stützen wollte - gegen Berlusconi und Grillo kommt er hier nicht an. "Pier Luigi Bersani kann deshalb nicht Italiens neuer Regierungschef werden. Und eigentlich müsste er, der die Wahlen so haushoch verloren hat, nun sofort auch als Sekretär der PD zurücktreten", erklärte der römische Politologe Giuseppe Ragusa. Die italienische Verfassung will, dass Staatspräsident Giorgio Napolitano in den nächsten Tagen die Beratungen mit den jetzt ins Parlament gewählten Parteien beginnt. Bis spätestens Mitte April muss Napolitano einen Regierungsauftrag erteilen. Es zeichnet sich daher jetzt die wirklich heiße Phase der Wahlen ab: Die drei stärksten Lager, die rechte Koalition um Berlusconis Volk der Freiheit, Grillos "Fünf-Sterne-Bewegung" und das Mitte-links-Bündnis Bersanis müssen sich auf einen Kandidaten einigen. Das kann nach der politischen Tradition nicht Bersani selbst sein, der ja Wahlkampfgegner von Berlusconi und Grillo war und sich jetzt nicht auf ihre Unterstützung verlassen kann. Niemand weiß daher heute, wer Italien bald regieren soll.

Ratlosigkeit bestimmt die Reaktionen in Europa: "Es ist schwer zu interpretieren, was in Italien ausgedrückt worden ist", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. "Eine Sache kann man allerdings feststellen: Es gibt eine große Skepsis gegenüber dieser einseitigen Kürzungspolitik. Und sie wird als eine Weisung aus Brüssel an Italien verstanden, das ist auch eine Absage an eine einseitige Kürzungspolitik der EU."