Waren die Ägypter während der Revolution gegen Diktator Mubarak noch geeint, stehen sich nunmehr zwei Lager unversöhnlich gegenüber.

Berlin. Massenschlägereien, Panzer in den Straßen Kairos, Tote und Verletzte: Waren die Ägypter während der Revolution gegen Diktator Husni Mubarak noch weitgehend geeint, stehen sich nunmehr zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Präsident Mohammed Mursi ist auf der Siegerstraße: Er ist demokratisch legitimiert, weiß die Bevölkerungsmehrheit hinter sich - auch in der Beurteilung des umstrittenen Verfassungsentwurfs -, und nun wird er, der Mann aus dem Lager der Muslimbruderschaft, sogar von der Armee beschützt, die sich bisher zurückgehalten und nicht positioniert hat.

Dennoch läuft er Gefahr, die Liberalen, die christlichen Kopten, die moderaten Muslime und die Frauen auf dem von ihm vorgezeichneten Weg in eine neue Zukunft zu verlieren. Das will der gelernte Ingenieur unbedingt verhindern und schickte Vizepräsident Mahmud Mekki mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, Änderungen am Verfassungsentwurf vorzuschlagen und im Konsens abzusegnen. Das reichte den aufgebrachten und auch verängstigten Mursi-Gegnern aber nicht, weshalb der Präsident sich selbst an sein Volk richten wollte. Eine für den Nachmittag angekündigte Fernsehansprache des Präsidenten wurde aber verschoben. Der Nachrichtensender al-Arabija meldete, Mursi wolle in der Nacht eine "wichtige Entscheidung" bekanntgeben.

Gelingt es Mursi nicht, die Lage zu beruhigen, könnte Ägypten in einen Bürgerkrieg abgleiten. Immer häufiger kommt es zu gewaltsamen Übergriffen und Repressalien. Ein Video zeigt eine Straßenszene in Kairo, in der die Kettenhunde der Muslimbrüder versuchen, die Aktivistin Shahenda Maklad zum Schweigen zu bringen. Einer der Muslimbrüder versucht in dem Film wiederholt, der Frau die Hand vor den Mund zu halten, damit sie keine Mursi-kritischen Parolen mehr rufen kann. Sichtlich eingeschüchtert verzichtet Maklad dann auch auf weiteren lautstarken Protest.

In der Nacht zum Donnerstag kamen in Kairo sechs Menschen ums Leben: ein Anhänger der Muslimbruderschaft, vier Anhänger der Opposition und Hussein Abu Dheif, ein Pressefotograf der Zeitung "al-Fadschr". Der Fotograf sei mit einem Kopfschuss in ein Krankenhaus eingeliefert worden und dort später gestorben, hieß es. Mitglieder der Journalistengewerkschaft erstatteten nach Angaben der Zeitung Anzeige gegen führende Funktionäre der Muslimbruderschaft. Sie werfen ihnen vor, die gewaltsamen Proteste provoziert zu haben. Beobachter sprachen von nahezu 650 Verletzten.

Die Armee und die Republikanische Garde fuhr mit mindestens fünf Panzern vor dem Präsidentenpalast auf, um die wütende Menge daran zu hindern, ihn zu stürmen. General Mohammed Saki, Chef der Republikanischen Garde, versicherte, die Streitkräfte würden nicht zur Unterdrückung der Opposition eingesetzt. Die Soldaten sollten lediglich beide Seiten auf Distanz halten. Dennoch hat die zu Mubaraks Zeiten betont säkulare Militärführung sich positioniert: als Macht im Hintergrund, die staatliche Strukturen - auch wenn sie von Muslimbrüdern dominiert werden - zu schützen. Das ist zwar ihre Aufgabe und hat zunächst stabilisierenden Charakter, ist vielleicht aber auch der Dank des Militärs dafür, dass die gefürchteten Militärtribunale im aktuellen Verfassungsentwurf nicht angetastet werden.

Diese militärische Gerichtsbarkeit galt unter Mubarak als Repressionsmittel gegen die Opposition - auch gegen Muslimbrüder. Noch während der Umbruchzeit saßen bis zu 11.000 Zivilisten in Militärgefängnissen. Nun könnten die Tribunale Mursis Apparat dienen, unliebsame Gegner auszuschalten, nachdem auch die zivile Justiz zunehmend unter den Einfluss islamischer Rechtsgelehrter gerät. Viele Ägypter, die die Rolle der Armee während des Aufstands gegen Mubarak noch gelobt haben, bezeichnen die Soldaten nun als Verräter an den Zielen der ägyptischen Revolution.

Mohammed Esmat Seif al-Daula ist der inzwischen siebte Berater des Präsidenten, der von seinem Amt zurücktritt. Als Reaktion auf die Ausschreitungen auf Ägyptens Straßen hatten in der Nacht zum Donnerstag bereits Arm al-Leithi, Seif Abdel Fattah und Aiman al-Sajjad Mursis Beraterstab verlasen.

Die jüngste Krise hatte am 22. November begonnen, als sich Präsident Mursi mit Dekreten fast unbeschränkte Machtbefugnisse gesichert und sich jedweder Kontrolle durch die Justiz entzogen hatte. Die Proteste richten sich aber auch gegen einen von den Islamisten geprägten Verfassungsentwurf, über den Mursi nächste Woche in einem Referendum abstimmen lassen will und der dem göttlich-islamischen Recht Scharia einen größeren Raum zusichert, das Alltagsleben am Nil zu bestimmen. Das ist allem Anschein nach mehrheitsfähig, doch alle anderen religiösen und gesellschaftlichen Gruppen außerhalb der Ideologie der Muslimbrüder fürchten um die Pluralität und damit um die Früchte der Revolution.

Inzwischen meldete sich auch die höchste religiöse Instanz der Sunniten im Land zu Wort: Das Kairoer Al-Ashar-Institut forderte Mursi auf, die Ausweitung seiner Machtbefugnisse auszusetzen. Es müsse der Weg für einen Dialog ohne Vorbedingungen geebnet werden. Wenig Illusionen macht sich inzwischen der ehemalige Chef der Atomenergiebehörde, Oppositionelle und Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei. Er sagte, Mursis Herrschaft sei von Mubaraks kaum zu unterscheiden. "Vielleicht ist sie sogar noch schlimmer."