Lange stand das südamerikanische Land im Schatten von Krieg, Kokain und Kidnapping. Nun boomt die Wirtschaft, Touristen kommen. Ein Report.

Man kommt in Kolumbien leicht in einen Rausch. Besonders wenn man ein paar Tage im abgelegenen Küstenstädtchen Bahia Solano verbringt. Keine einzige Straße führt aus dem Landesinneren hierher. Die alte Propellermaschine aus Medellin fliegt eine knappe Stunde über unberührten Urwald und landet auf einer haarsträubend kurzen Dschungelpiste. Und wo der Regenwald fast ins Meer hineinwächst, da liegt Bahia Solano. Drum herum nur eine Handvoll Dörfer, in denen Indios und Schwarze vornehmlich von der Jagd und vom Fischfang, zunehmend auch von Individualtourismus leben. Ansonsten nur Natur, wohin das Auge blickt. Ganze Herden von bis zu 16 Meter langen Buckelwalen tummeln sich von Frühsommer bis Spätherbst an der beinahe menschenleeren Pazifikküste. Ozeanbrecher, glitzernde Wasserfälle, tropische Regengüsse und Kokospalmen rauschen um die Wette. Man ist wie benommen davon.

Bahia Solano ist nicht nur irgendein Städtchen irgendwo an der kolumbianischen Pazifikküste. Das Dschungelnest ist eine kleine Sensation. Denn bis vor Kurzem wäre ein Abstecher hierher für einen Westeuropäer ein Abenteuer-Trip mit eingebauter Kidnapping-Garantie gewesen. Bahia Solano in der Provinz Chocò im Nordwesten Kolumbiens lag lange im rechtsfreien Raum. Hier war das Operationsgebiet von Kokain-Kartellen, die aus versteckten Buchten tonnenweise weißes Pulver in Richtung Nordamerika und Europa verschifften, und von links gerichteter Guerilla, die sich fast ein halbes Jahrhundert lang mit der korrupten Staatsmacht und rechten Paramilitärs einen blutigen Bürgerkrieg lieferten.

Kolumbien war Südamerikas schaurige Schönheit. War!

Die drei Ks - Krieg, Kokain, Kidnapping - hielten die 44 Millionen Einwohner Kolumbiens in den vergangenen knapp 50 Jahren permanent im Schwitzkasten. Wohl jeder Kolumbianer hat jemanden in der Familie oder im Bekanntenkreis, der aus seiner Heimat geflüchtet, der entführt oder ermordet worden ist. Nur der Sudan hat mehr Flüchtlinge als Kolumbien. Während des Bürgerkriegs wurden vier bis sechs Millionen Menschen vertrieben, 200.000 bis 400.000 ermordet.

Dabei hatte schon der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt auf seiner berühmten Südamerikareise vor 200 Jahren geschwärmt: "Wer seinen Fuß auf dieses Land setzt, den lässt die Sehnsucht nimmermehr los." Drei Andenkordilleren durchziehen das Land von Norden nach Süden. 1400 Kilometer Karibik- und 1200 Kilometer Pazifikküste, riesige Regenwälder, Erdöl-, Edelmetall- und Edelsteinvorkommen. Mit seinen Seen, Flüssen, Hochmooren, Amazonassümpfen und dem Orinoko ist Kolumbien der wasserreichste Staat der Erde - und Vizeweltmeister der Artenvielfalt. Die Regierung des Landes, das doppelt so groß wie Frankreich ist, hatte jedoch bis vor Kurzem nicht mal zwei Drittel des Landes unter Kontrolle. Im Rest hatten Guerilleros und Gangster das Sagen - wie im Gebiet um Bahia Solano. Kolumbien war Südamerikas schaurige Schönheit. War!

Denn Juan Manuel Santos, seit 2010 Präsident im Lande, macht Ernst. Will endlich Frieden schaffen, die Kartelle zerschlagen, die Bevölkerung dauerhaft vor Übergriffen und Vertreibung schützen. Der zupackende Santos hat das Militär fast verdoppelt, der grassierenden Korruption den Krieg erklärt. Und er kann Erfolge verzeichnen: Die meisten großen Drogenbosse sitzen hinter Gittern. Die Zahl der Anschläge und Überfälle ist kontinuierlich rückläufig. Guerilla und Paramilitärs sind weit zurückgedrängt und teilweise entwaffnet. Ihr Rückhalt seitens der Bevölkerung schwindet. Auch das Millionengeschäft Erpressung floriert nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren, als Tageszeitungen und Nachrichtensendungen noch eine feste Rubrik für "Secuestro" (Entführung) hatten. Hatten!

Das Land, in das sich früher kaum ein Tourist oder Unternehmen traute, ist sicherer geworden. Lufthansa fliegt heute regelmäßig von Frankfurt nonstop nach Bogotá, fünfmal die Woche. Ab Ende Oktober plant die Airline sogar, jeden Tag die kolumbianische Hauptstadt anzufliegen. Viele Reiseveranstalter haben die Amazonasgebiete im Süden, das Kaffeedreieck und die Küsten bereits in ihre Reisekataloge aufgenommen.

Während 2007 noch knapp 22.000 deutsche Touristen Kolumbien besuchten, waren es nach Angabe des kolumbianischen Fremdenverkehrsamts im Jahr 2011 schon mehr als 41 000. Allein von 2010 auf 2011 verzeichnete Kolumbien einen 39-prozentigen Zuwachs allein an deutschen Urlaubern. Mit einem vergleichbaren Anstieg kann sonst nur Myanmar aufwarten nach der Öffnung des Landes und der Aufhebung des Hausarrestes für die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.

Zudem steht Kolumbien vor der Ratifizierung eines Freihandelsabkommens mit der EU. Handelsminister Sergio Diaz-Granados erwartet, dass sich die Exporte in die EU in den kommenden acht Jahren verdoppeln werden. Die Wirtschaft wuchs 2011 um 5,5 Prozent. Für 2012 wird ein ähnlich hohes Wachstum erwartet. Die Rating-Agentur Standard & Poor's hat die langfristigen Aussichten für Kolumbien jüngst von "stabil" auf "positiv" geändert.

Klar, in Kolumbien gibt es noch immer viele Risiken und Unwägbarkeiten: eine hohe Kriminalität, Landstriche in den Amazonassümpfen im Süden und an der Grenze zu Venezuela im Norden, in denen die Guerilla noch immer die Gesetze macht. Und noch immer ist Kolumbien mit Abstand der Hauptproduzent von Kokain. Doch vieles geht offenbar in eine gute Richtung. Am 15. Oktober beginnen in Havanna auf Kuba die Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und Vertretern der Guerilla, die später in Norwegen fortgeführt werden sollen.

Die Tourismusindustrie entdeckt das Andenland

"Ein ganzes Volk hofft, dass diese Friedensgespräche erfolgreich sein werden. Dass das Land nicht nur erwacht, dass es erblüht. Dass es nur noch schön ist und gar nicht mehr schaurig", sagt Pedro Luis. Der Skulpturenkünstler aus Medellin - Zopf, grauer Vollbart, 58 Jahre alt - hat sich bei Bahia Solano eine Strandhütte gekauft. Er sitzt auf einem Stamm, raucht eine Zigarette und starrt eine Weile schweigend hinaus aufs Meer: "Ich komme jeden Monat mindestens einmal mit dem Flugzeug aus Medellin hierher. Für mich ist es das Paradies. Einsam, wunderschön, ein paar Touristen aus Europa, Kanada und den USA, aber nicht zu viele."

200 Meter vom Strand entfernt sieht man Wale schwimmen. Finnen, Flossen, Wasserfontänen. Eine junge Frau hat mit einem Stock eine verirrte Giftschlange aufgegabelt. Dann muss Pedro Luis auch schon los. Denn das einzige Dschunkeltaxi weit und breit, ein alter, bunt gestrichener Nissan Patrol, mit dem Besitzer Juan Carlos Asprilla seine sechsköpfige Familie über Wasser hält, bringt ihn für ein paar Pesoscheine ins nächste Dorf. Dort will der Künstler frischen Fisch essen.

"Wenn diese Wahnsinnssummen, die hier bislang ins Militär gesteckt wurden, auch für die touristische Entwicklung des Landes ausgegeben werden, erwächst in Kolumbien für so einige Urlaubsdestinationen mit Geheimtipp-Status eine heftige Konkurrenz", sagt Stephan Daniels, stellvertretender Geschäftsführer beim Freiburger Reiseveranstalter Aventoura.

Der 39-Jährige schlendert barfuß am Strand entlang. Ab Ende Oktober vergraben hier Meeresschildkröten ihre Eier. Eine Menge Treibgut ist auf dem dunklen Sand angespült worden, das die Flut später wieder mit sich nehmen wird. Am Horizont verabschiedet sich allmählich die Sonne. Ein paar Surfer machen für heute Feierabend. Aus dem Urwald krächzen und kreischen exotische Tierstimmen herüber. Riesige Zikaden schmettern ihr Lied. Pelikane beenden die Jagd aufs Abendessen, schwarze Geier kreisen noch am Himmel. Jugendliche aus den umliegenden Dörfern trainieren in bunten und weißen Kostümen mit Macheten, Buschtrommeln und der kolumbianischen Flagge für einen Tanzwettbewerb.

Er sei hier, um die letzten weißen Flecken auf seiner ganz persönlichen Weltkarte zu tilgen, sagt der süddeutsche Reiseprofi Daniels. "Und um zu gucken, wie es da aussieht, wohin ich meine Kundschaft künftig in den Urlaub schicke. Ich finde Kolumbien schön und spannend. Das Auswärtige Amt hat die Reisewarnungen längst zurückgenommen. Und auch ich halte das Risiko für durchaus überschaubar."

Verdächtige Bananendampfer und zwei Bremer Urlauber

Am Flughafen der Karibikstadt Santa Marta - ganz oben im Norden Kolumbiens - warten die Bremer Katja Franco und Jens Püttmann auf ihren Flug nach Bogotá. Das Thermometer zeigt 38 Grad, die Luftfeuchtigkeit liegt bei 90 Prozent. Von Santa Martas Hafen aus starten täglich die berühmt-berüchtigten kolumbianischen Bananendampfer in alle Welt. Die Schiffe, die vom Zoll und der Drogenfahndung in den Häfen von Hamburg oder Rotterdam, Miami oder Los Angeles ganz genau wegen möglicherweise versteckter Kokain-Ladungen unter die Lupe genommen werden. Oft genug, viel zu oft, werden die Fahnder noch immer fündig. Der Kampf um den Frieden ist kein leichter. Der gegen die Droge auch nicht.

Drei Wochen seien sie durchs Land gereist, erzählen Katja Franco und Jens Püttmann. Von Leticia im Amazonasgebiet, wo sie in Hängematten unter freiem Himmel übernachtet haben, und von der Hauptstadt Bogotá; sie haben die karibische Kolonial-Perle Cartagena mit ihren vorgelagerten Islas des Rosario besucht, Santa Marta und den Tayrona-Nationalpark und seinen weißen Stränden.

"Nicht eine brenzlige Situation haben wir unterwegs erlebt", resümiert Jens Püttmann. Seine Freundin ergänzt: "Das Gefährlichste war die Strömung im karibischen Meer, die hier bei Santa Marta doch recht heftig ist."