Peking beansprucht mehrere Inselgruppen. Die Nachbarn von Tokio bis Manila sind alarmiert. Auch die USA sehen ihre Kerninteressen berührt.

Peking. Vier Hongkonger Marinepolizisten versuchten vergebens, die Abfahrt der 14 Aktivisten auf ihrem Fischkutter "Kai Fung Nummer 2" aus dem Hafen zu stoppen. Die Patrioten hatten sich im Steuerhaus verbarrikadiert. Bevor ihr Schiff internationale Gewässer erreichte, gingen die Beamten von Bord. Sie wussten, dass die "Kai Fung" Kurs auf die chinesisch Diaoyu oder japanisch Senkaku genannten Inseln nahm. Als der Kutter in deren Nähe kam, konnte Japans Küstenwache nicht verhindern, dass einige Aktivisten ins Wasser sprangen, zu den Riffen schwammen und dort die Fahnen der Volksrepublik und Taiwans hissten. Dann wurden sie festgenommen. Auf Druck Pekings schob Tokio die Inhaftierten nun wieder nach Hongkong ab. Heute werden sie dort mit ihrem Schiff zum Jubelempfang einlaufen. Die Wortführer der Inselstürmer kündigten an, auch künftig nach Diaoyu zu fahren, bis Tokio die Inseln China zurückgibt.

Japan erklärt die fünf unbewohnten Riffe seit seinem Seekrieg mit China 1894 zu seinem Hoheitsgebiet. Peking führt seinen Anspruch auf die Inseln auf die Ming-Dynastie (1368-1644) zurück. Der Streit hat an Schärfe gewonnen, seit im Inselgebiet reiche Öl- und Gaslager vermutet werden.

Das war nur der erste Akt. Nun waren die Japaner dran. Trotz Tokios Verbot, die Inseln zu betreten, reagierten 150 japanische Patrioten auf die "chinesische Provokation" mit ihrem eigenen Inseltrip. Von den Booten aus schwammen sie auf das Eiland, um dort ihre Fahnen zu hissen. Japans Regierungssprecher bedauerte die Aktion, die ein falsches Signal sende. Doch nun lagen wieder in China die Nerven blank. In mehr als 20 Städten kam es zu antijapanischen Kundgebungen und Protesten. In Shenzhen kam es zu Ausschreitungen. Drei Restaurants wurden demoliert, ein japanischer Supermarkt attackiert, ein Dutzend Autos umgeworfen.

Die hochgehenden Emotionen auf beiden Seiten, die beide Regierungen mit Fischereistreits und gegenseitigen Attacken immer wieder geschürt hatten, haben Tokio und Peking jetzt aber aufgeschreckt. Sie rudern zurück. Japans Regierungssprecher Osamu Fujimura warnte, dass ein vernünftiges Verhältnis zwischen ihnen "unverzichtbar ist für die Stabilität und den Wohlstand der asiatisch-pazifischen Region". Japan will noch in dieser Woche einen diplomatischen Unterhändler nach Peking schicken, um den Inselstreit zu deeskalieren. Auch China wiegelt ab. Ausschreitungen unter dem Namen Patriotismus seien "irrational", schrieb "Xinhua", Chinas Jugendzeitung: "Diese Art von Patriotismus verdient kein Lob, sondern beschämt uns." Die Reaktionen sind aber nicht einheitlich. In der Parteizeitung "Global Times" verlangte der als Falke geltende Oberst Liu Yuan, einer der Vordenker an der Akademie für Armeewissenschaften, Japan "die rote Linie" aufzuzeigen. China sollte seinen noch namenlosen Flugzeugträger "Diaoyu" nennen, um seinen Anspruch auf die Inseln zu demonstrieren. Liu schlug vor, ein Marinekomitee einzurichten, das für die Koordination einer maritimen Strategie im Ost- und Südchinesischen Meer zuständig ist.

Vor dem kommenden 18. Parteitag der Kommunistischen Partei in Peking, bei dem das Militär hofft, mehr Einfluss auf die künftige Politik zu gewinnen, ist das nicht nur Säbelgerassel. Der erneut aufkochende Territorialstreit zwischen China und Japan im Ostchinesischen Meer findet sein Pendant im Südchinesischen Meer. Dort ist China gleich mit einer Reihe seiner Anrainerstaaten in Konflikt geraten. Die International Crisis Group warnte in zwei ihrer in kurzen Abständen erschienenen Studien unter dem Titel "Brodelndes Südchinesisches Meer" vor den Gefahren. Alle Anliegerstaaten, die Ansprüche auf die mehr als 200 Inseln anmelden, seien dabei, sich militärisch aufzurüsten. Unter ihnen wachse der Nationalismus.

Ausmaß und Unbestimmtheit der chinesischen Ansprüche auf das Südchinesische Meer zusammen mit Pekings anmaßendem Auftreten haben viele der Beteiligten aufgeschreckt. Zwar sei die unmittelbare Gefahr "für große Zusammenstöße gering" urteilen die Konfliktforscher. Doch könnten sich künftige Auseinandersetzungen gerade an geringen Anlässen entzünden. So wie sie gerade die Aktivisten beider Seiten im Ostchinesischen Meer provozierten. Die Crisis Group nennt etwa Zwischenfälle unter den Fischfangflotten und Streitigkeiten zwischen Ölsuchfirmen, die sich unter dem Schutz der jeweiligen Länder im Südchinesischen Meer tummeln. Alarmiert warnt sie: "Alle Trends in dieser Region weisen in die falsche Richtung."

So wie Diaoyu beansprucht die Volksrepublik China auch die Inseln im Südchinesischen Meer als historisch verbrieften Besitz. Es geht ihr um die Xisha-, (Paracel), Zhongsha- (Macclesfield Bank) und Nansha-Inseln (Spratly) und damit um fast zwei Drittel des 3,5 Millionen Quadratkilometer großen Meeres. Bisher verpuffte der darüber geführte Dauerstreit meist als polemischer Schlagabtausch oder führte mit der Ausnahme von zwei kurzen Seekriegen gegen Vietnam zu zivilen Zwischenfällen. China beansprucht zwar alle Inseln, kontrolliert sie aber nicht. Nach Angaben von "China Weekly" beherrscht Peking neben den Paracel-Inseln bislang nur sieben Spratly-Riffe. Vietnam besitzt 27 Spratly-Inseln, die Philippinen neun, Malaysia fünf und Taiwan eine.

Seit sich das Meergebiet als fischreich, öl- und gashaltig entpuppt, wird der Ton schriller. Vietnams Parlament verabschiedete ein Seerecht, wonach die Paracel- und Spratly-Inseln zu Vietnam gehören. China protestierte. Zwischen Pekings und Manilas Fangflotten eskalierten Fischereistreitigkeiten. Auch die USA mischen mit. Das Südchinesische Meer ist der wichtigste Schifffahrtsweg von Asiens Wachstumsregionen zum Westen. Die Regierungswebseite China.org.cn nennt es die "geschäftigste Meerwasserstraße der Welt". Über sie fährt mehr als die Hälfte der globalen Handelsflotten, werde die halbe Energieversorgung Nordostasiens und darunter 80 Prozent seines Öls transportiert. "Militärisch gesehen: Wer die Inseln im Südchinesischen Meer besitzt, könnte direkt oder indirekt Kontrolle über die meisten Seewege der Welt ausüben, die aus Westeuropa nach Ostasien führen."

Das ist einer der Gründe, warum sich die USA wieder verstärkt nach Asien orientieren, 60 Prozent ihrer Marine künftig im Pazifik stationieren wollen und ihre Schutzabkommen mit verbündeten Staaten erneuern. Die Sicherheit in Asien-Pazifik sei ein "Kerninteresse der USA", sagte Außenministerin Hillary Clinton. Ihre Warnung wurde in Peking genauestens registriert.

Zu neuer Spannung in der Region hat eine überraschende Aktion Pekings beigetragen. Sein Staatsrat beschloss Ende Juni, auf der von China kontrollierten Spratly-Insel Yongxiang (Woody-Island) eine eigene Stadt zu bauen. Der urbane Neuzugang heißt Sansha und liegt 350 Kilometer von Chinas subtropischer Inselprovinz Hainan entfernt im Südchinesischen Meer. Sansha bedeutet "drei Sandbänke" und leitet sich von den drei Inselgruppen Xisha, Zhongsha und Nansha ab. Die neue Stadt übt die Verwaltungshoheit über 13 Quadratkilometer Boden auf 200 Inseln, Sandbänken und Riffen aus. Und über zwei Millionen Quadratkilometer Seegebieten.

Die Volksrepublik China wagt sich ins Meer hinaus. Sowohl in Vietnam als auch auf den Philippinen kam es zu Demonstrationen. Sansha würde den Status quo infrage stellen. US-Regierungssprecher Patrick Ventrell sprach von einem riskanten Schachzug. Peking warf darauf den USA im Gegenzug Einmischung in seine inneren Angelegenheiten vor.

Auf den diplomatischen Gegenwind reagierte Außenminister Yang Jiechi aber dennoch. Mitte August unternahm er eine Goodwill-Südostasientour und versprach eine konstruktive Mitarbeit seines Landes an einem neuen Verhaltenkodex für das Südchinesische Meer.