Der britische Premier verteidigt zugleich sein Nein zur Vertragsänderung. Er wolle den gesamten europäischen Finanzsektor schützen.

London. Unter stürmischen Szenen im Unterhaus verteidigte Großbritanniens Premierminister David Cameron gestern Nachmittag in einer Regierungserklärung sein Veto vom Freitag letzter Woche gegen einen neuen EU-Vertrag. Viele seiner Argumente wiederholten, was er bereits am Ende des Brüsseler EU-Gipfels gesagt hatte, vor allem, dass er dafür verantwortlich sei, den Finanzplatz London vor neuen Regulierungsabsichten aus der EU zu schützen. Er habe dabei keinesfalls um ausschließlich für Großbritannien geltende Ausnahmen gebeten, sondern an die ganze EU gedacht. Es sei wichtig, dass die Finanzdienstleistungsindustrie innerhalb der EU im offenen Wettbewerb agieren könne. "Wer sagt, wir hätten die Banken geschont, könnte sich kaum mehr irren."

Großbritannien bleibe in anderen Bereichen aktiv und wichtig in Brüssel, sagte Cameron: "Wir sind in der Europäischen Union, und das wollen wir auch." Das war auch eine deutliche Botschaft an die radikalen Europaskeptiker in Camerons Partei, die seit Langem einem britischen Auszug aus der EU das Wort reden. Cameron vermied entsprechend jeden triumphalistischen Ton.

Mehrere Kommentatoren machten gestern deutlich, von welchen Zahlen man überhaupt spreche, wenn von der "Londoner City" die Rede sei. Die "Goldene Meile", wie man den Finanzplatz auch nennt, trug 2009 etwa 124 Milliarden Pfund zum britischen Bruttoinlandprodukt bei, nahezu elf Prozent, verglichen mit 5,1 Prozent, welche die französischen Finanzdienstleister aufbringen. 53 Milliarden Pfund (ca. 60 Milliarden Euro) dieses BIP-Volumens aus der City flossen als Steuereinnahmen in die Kassen des Fiskus. Von den Finanztransaktionen in der gesamten EU werden 75 Prozent in der City abgewickelt. Das heißt: Wenn Paris und Berlin mit ihrem Plan einer Finanztransaktionssteuer durchkämen, die nach jüngsten Berechnungen 57 Milliarden Euro erbringen würde, müsste London den Löwenanteil davon zahlen - 44 Milliarden Euro. Viel hängt also an der britischen Weigerung, sich die Geschäfte in der Goldenen Meile nicht von EU-Regulierungen verderben zu lassen.

Derweil kann sich David Cameron sicher fühlen, von der großen Mehrheit der britischen Bevölkerung für sein Nein in Brüssel unterstützt zu werden. Am Wochenende hatte die "Mail on Sunday" in einer Online-Umfrage ermittelt, dass 62 Prozent hinter ihrem Regierungschef stehen. Die "Times" folgte gestern mit einer bei dem renommierten Meinungsforschungsinstitut Populus in Auftrag gegebenen Umfrage. Demnach sind es 57 Prozent, die die Haltung Camerons begrüßen, nur 14 Prozent sind anderer Meinung. Selbst unter den Wählern, die im vorigen Jahr für den kleineren Koalitionspartner, die Liberaldemokraten (LibDems), stimmten, stehen 49 Prozent hinter Cameron, was ebenfalls mehrheitlich bei Labour-Wählern der Fall ist. Dies Ergebnis zeigt, wie vorsichtig die Liberalen und Labour taktieren müssen mit ihrer Kritik an Camerons Position: Sie gibt nicht wieder, was die Mehrheit im Lande denkt.

Dennoch lässt diese Kritik sich davon nicht abschrecken, wie auch die gestrige Aussprache nach Camerons Regierungserklärung im Unterhaus zeigte. Schon im Vorfeld hatte der frühere Außenminister David Miliband, jüngerer Bruder des jetzigen Labour-Chefs Ed Miliband, die "Churchill-Pose" Camerons, das Spiel mit dem Heroismus des Alleinestehens, als "in die Irre führend" abgekanzelt. "Es ist ein kontraproduktiver Weg, solcherart für britische Interessen eintreten zu wollen", sagte Miliband. Cameron habe ein "Phantom-Veto" eingelegt, gegen eine "Phantom-Gefahr". Sein Bruder, der gestern erneut den Regierungschef für seine taktisch unkluge Verhandlungsführung geißelte, wollte andererseits nicht klar sagen, ob er an Camerons Stelle dem Vertrag zugestimmt hätte.

Versöhnlicher äußerte sich David Laws von den LibDems, ein einflussreicher Politiker, der im vorigen Jahr von dem Posten des Ersten Sekretärs des Finanzministeriums zurückgetreten war. Die Koalition werde diese Krise überstehen, meinte Laws in der BBC, die Schwierigkeiten ließen sich "bewältigen". Man streite sich darüber, ob Cameron in Brüssel taktisch gut beraten war, aber nicht über den Kern der Verhandlungsbasis der Regierung, die zwischen den Koalitionspartnern vorab festgelegt worden war. Auch Laws, wie zuvor schon sein ansonsten über das Brüsseler Ergebnis "tief enttäuschter" Parteikollege und Vizepremier Nick Clegg, sieht die Schuld am Scheitern bei dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der die durchaus vernünftigen Vorschläge Londons ignoriert habe, um das Vereinigte Königreich vom Kern der EU fernzuhalten.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wandte sich gegen eine Isolierung Großbritanniens. In der ARD sagte er: "Die Tür für Großbritannien bleibt offen. Ich hoffe, dass die Briten die offene Tür durchschreiten werden." EU-Währungskommissar Olli Rehn bedauerte die Entscheidung ebenfalls - nicht nur wegen der Euro-Zone, sondern auch in Sorge um die Briten, wie er sagte. "Die Briten brauchen uns mehr, als wir die Briten brauchen", sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding. Sie ist zuversichtlich, dass Großbritannien beim neuen EU-Vertrag noch einlenkt. "Aus der Erfahrung wissen wir, dass die sich immer etwas zieren und dann nach einer Brücke Ausschau halten, um doch noch dabei zu sein", sagte Reding im MDR.