Die Frauenrechtlerin spricht über die Schwierigkeiten, als Frau in Afghanistan Politik zu machen. Kufi: “Man hat mir einfach nichts zugetraut.“

Hamburg. "Es ist nur eine Tochter“, heißt es bei Fausia Kufis Geburt im Nordosten Afghanistans. Sie ist das 19. von 23 Kindern, die ihr Vater mit sieben Frauen gezeugt hat. Das ungewollte Baby, das siebte ihrer Mutter, wird ausgesetzt, um unter der sengenden Sonne in einer der wildesten Berggegenden Afghanistans zu sterben. Doch Fausia überlebt ("mein winziges Gesicht war von der Sonne so verbrannt, dass ich noch als Jugendliche Narben af den Wangen trug“) – ebenso wie sie andere bedrohliche Situationen überleben wird. Als ihr Vater von Mudschahedin getötet wird und die Familie in Ungnade fällt, suchen die Kufis Zuflucht in Kabul – nur um sich hier vor den Taliban schützen zu müssen, die an Macht gewinnen.

Doch weder durch die Burka noch durch Repressalien lässt sich Fausia in ihrem Traum von Freiheit beirren. Als einziges Mädchen in ihrer Familie besucht sie die Schule, später die Universität. Sie heiratet einen Mann, den sie liebt, und bringt zwei Töchter zur Welt. Als ihr Mann an den Folgen der Folter stirbt, wagt Fausia das Unvorstellbare: Sie geht als Frau in die Politik. 2005 wird sie ins Parlament gewählt und setzt sich seither unermüdlich für die Rechte von Kindern und Frauen ein. Doch dieses Leben verlangt Opfer: Vor jeder Reise schreibt sie einen Brief an ihre Töchter Schuhra und Schaharasad, denn sie weiß nicht, ob sie zurückkehren wird. Fausia Kufi will sich bei den Wahlen 2014 als Kandidatin für das Präsidentenamt aufstellen lassen.

Hamburger Abendblatt: Sie möchten Traditionen aufbrechen, kämpfen für Menschenrechte in Afghanistan. Wenn man Ihr Buch liest, lernt man derart viele Beschränkungen kennen, dass man Veränderungen für schwer möglich hält. Wie wollen Sie das schaffen?

Fausia Kufi: Es gibt Anzeichen für Fortschritt in meinem Land. Die Gesellschaft ist in zwei Teile gespalten, die Fortschrittlichen und die Traditionalisten. Viele Politiker wollen keine Veränderungen, weil sie glauben, dann Macht zu verlieren. Sie wollen Stillstand. In den vergangenen 10 Jahren haben aber viele Menschen gelernt, wie wichtig das Recht auf freie Meinungsäußerung ist, Pressefreiheit oder Frauenförderung. Ich glaube, der Fortschritt ist schon so weit gediehen, dass man ihn kaum noch aufhalten kann. Da würde es bereits Widerstand geben.

Wie viel Prozent der Bevölkerung glauben an den Fortschritt?

Kufi: Es gibt keine offiziellen Zahlen. Leider wächst nicht nur der Anteil, der für Freiheit und Demokratie, für Menschenrechte eintritt. Gleichzeitig wächst auch der Anteil derer, die sich radikalisieren. Dennoch, durch die Medien, hauptsächlich Radio und Fernsehen, haben mehr und mehr Menschen begriffen, dass sie Rechte haben.

Welche Fortschritte sehen Sie?

Kufi: Wir müssen eine Regierung bekommen, die den Menschen Arbeit verschaffen kann. Wir brauchen Schulen für Mädchen. Inzwischen kommen selbst aus Gegenden, in denen vor 20 Jahren noch kein Mädchen zur Schule gehen konnte, Menschen zu mir, die wollen, dass wir dort Mädchenschulen bauen. Gleichzeitig gibt es Traditionalisten, die behaupten, Mädchen, die zur Schule gehen, seien keine Muslimas. Ich glaube, Fortschritt entsteht aus der Gesellschaft selbst. Sobald ein Bewusstsein da ist, kann man es nicht mehr abstellen. Inzwischen wählen auch die Menschen ihre Abgeordneten nicht mehr nach Geschlecht sondern nach Fähigkeit aus. Gleichheit ist ein Zeichen von Fortschritt. Natürlich gibt es nach wie vor viele Hindernisse. Ich musste beispielsweise meine Brüder um Erlaubnis fragen, in die Politik gehen zu dürfen.

Klingt schrecklich. In Ihrem Buch beschreiben Sie Vieles, was in unseren Ohren unvorstellbar klingt. Ihr Vater hat beispielsweise Ihrer Mutter die eiserne Schöpfkelle auf den Kopf getrümmert, wenn nur zwei Körner beim Reisgericht zusammen klebten. Sie schreiben: "Der Reis musste locker sein. Fand mein Vater auch nur ein paar klebrige Reiskörner, verdüsterte sich sein Gesicht, er entschuldigte sich höflich bei seinen Gästen, ging in die Küche, riss meiner Mutter wortlos die Schöpfkelle aus der Hand und schlug ihr damit auf den Kopf. Blitzschnell hob sie schützend die Hände, die von früheren Züchtigungen bereits vernarbt und verkrüppelt waren. Manchmal verlor sie das Bewusstsein.“

Kufi: Ich versuche, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt durchzubringen. Überhaupt, Gesetze, wonach Vielweiberei, Ehen von Minderjährigen und Missbrauch als Straftaten gelten. Wenn wir solche Gesetze einbringen, müssen wir sie vorher zur Abstimmung bringen. Sie glauben nicht, was einige der männlichen Parlamentarier dazu als Kommentar abgegeben haben. ‚Wenn der Vater seine Tochter nicht mehr verheiraten darf, dann könnte sie ja den Sohn eines Gemüsehändlers heiraten. So etwas darf niemals passieren’ haben da Einige geantwortet. Aber um auf meine Mutter zurück zu kommen, sie war eine sehr starke Frau. Wenn ich in ihrer Situation gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich vergessen. Es gibt immer noch Frauen, die so leben müssen, wie es meine Mutter tat. Bei den jungen Leuten nimmt es aber ab. Junge afghanische Frauen wollen nicht unbedingt nach westlichen Vorbildern leben. Aber sie wollen zur Schule gehen, lernen, eine Arbeit annehmen. Und vor allem wollen sie respektiert werden. Frauen, die geschlagen werden, müssen das Recht bekommen, dagegen gerichtlich vorzugehen.

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Sie waren eine der ersten Frauen in Afghanistan, die in die Politik gegangen sind. Wie ist Ihnen das gelungen?

Kufi: Zuerst musste ich meine Brüder überzeugen, dass das richtig ist. In einer konservativen, traditionellen Familie muss man sehr, sehr viel Geduld aufbringen, wenn man seine Brüder von etwas überzeugen will, das sie nicht kennen. Ich musste sehr hart daran arbeiten. Bei uns kommen im Wahlkampf die Poster mit den Kandidatenfotos auf Autos. Meine Brüder wollten anfangs nicht, dass Fotos von mir durch die Stadt gefahren werden Viele Fahrer haben Drohungen bekommen, dass sie nicht mit meinem Poster herumfahren dürfen. Sie wurden aus ihren Autos gezerrt. Als ich dann gewählt wurde, war meine Familie glücklich. Doch sie bekamen zu hören, ich sei nur gewählt worden, weil die internationalen Beobachter in Afghanistan dafür gesorgt hätten, dass auch eine Frau gewählt wird. Man hat mir einfach nichts zugetraut. Dann habe ich begonnen, für soziale Projekte zu kämpfen, habe Straßen, Brunnen, Schulen und Kliniken bauen lassen. Es passierte etwas. Bei den Wahlen 2010 haben mich plötzlich alle unterstützt.

Sie waren die erste Frau in Ihrer Familie die zur Schule gehen durfte. Sie haben sich durchgesetzt, dass sie englisch lernen und sogar ein Medizinstudium abschließen konnten. Wie ist Ihnen das gelungen?

Kufi: Meine Mutter hat mir immer geholfen. Sie war Analphabetin und hat unter den Taliban die Burka getragen – etwas, das ich vermieden habe. Sie hat an mich geglaubt, hat mir immer gesagt „aus dir wird später etwas Besonderes“. Ich wusste nie, was das sein sollte, das Besondere. Aber sie hat jeden gestoppt, der versucht hat mich zu behindern. Sie hat meine Brüder, die ihre Söhne waren, als Erstes zu überzeugen versucht. Und die anderen Brüder natürlich auch. Ich habe meine Brüder dadurch überzeugt, dass ich ihnen nie Anlass zur Klage gegeben habe. Ich war immer die Beste in der Klasse, habe immer gute Zeugnisse nach Hause gebracht. Als ich in der neunten Klasse war, brach der Bürgerkrieg aus. Mädchen sollten nichts mehr lernen. Meine Brüder legten auch keinen Wert darauf, da ich ja später heiraten würde und nicht mehr meine Familie, sondern die Familie meines Mannes repräsentieren würde. Ich blieb eine Woche zuhause und habe nur geweint, habe nichts gegessen. Dann hat meine Mutter meine Brüder überredet, mich wieder zur Schule gehen zu lassen, weil ich sonst in den Hungerstreik getreten wäre. Und sie mit mir. Also haben sie mich wieder zur Schule gehen lassen. Nach zwei Wochen wollten sie mich wieder zuhause behalten. Es war ein ewiges Hin und Her. Ich bin heimlich am anderen Ende von Kabul zum Englischunterricht gegangen, was sehr gefährlich war, weil es ständig Raketenangriffe gab. Die Raketen sind direkt über meinen Kopf geflogen. Meine Mutter stand halbtot vor Sorge jedes Mal vor unserem Haus, um zu sehen, ob ich lebend zurückkomme.

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Sie schreiben auch, man musste nicht nur Angst vor Raketenangriffen haben sondern auch ständig vor Vergewaltigungen.

Kufi: Ja, das auch noch. Meine Mutter hat dann gesagt, "ich möchte nicht mehr, dass du Premierministerin wirst. Ich möchte nur noch, dass du am Leben bleibst.“

Sie haben ältere Schwestern. Wollten die nicht zur Schule gehen?

Kufi: Sie wurden sehr jung verheiratet. Bei uns gibt es die Tradition, dass man schon kurz nach der Geburt, einem Ehemann versprochen wird, einem Cousin. Sobald man ins jugendliche Alter kommt, wird man dann verheiratet. Aber meine Schwestern sind zufrieden. Ich war das erste Mädchen meiner Familie, das zur Schule ging und dann auf die Universität, um Medizin zu studieren. Medizin dürfen nur sehr gute Schüler studieren. Dann starb meine Mutter und mein ältester Bruder wurde mein Vormund. Er hat sich an den Wunsch meiner Mutter, dass ich studieren sollte, gehalten, hat mich sogar mit dem Auto zur Universität fahren lassen, weil es zu Fuß zu gefährlich gewesen wäre. Ich habe auch an der Universität immer nur gute Noten gehabt, damit meine Brüder keinen Grund zur Beschwerde bekommen. Meine Schwester, die zwölf Jahre älter ist als ich, hat in den vergangenen Jahren, da war sie schon Großmutter, angefangen englisch und Literatur zu studieren. Sie ist 2010 auch in die Politik gegangen und sitzt jetzt im Parlament. Sie hat acht Kinder, darunter drei Töchter.

Sind sie zur Schule gegangen?

Kufi: Jedes Mädchen meiner Familie, das nach mir geboren wurde, ist zur Schule gegangen. Ich war eine Art Rollenmodell für die anderen.

Der Respekt der afghanischen Männer gegenüber Frauen scheint nicht groß zu sein, wenn sie über Frauen entscheiden dürfen wie über einen Vorgang, eine Ware. Sie scheinen Frauen als eine andere Spezies zu betrachten.

Kufi: Absolut. Das Mann/Frau –Verhältnis unterscheidet sich kolossal von dem, was in Europa üblich ist. Selbst im Parlament ist es schwer für Frauen, ernst genommen zu werden. Die meisten männlichen Parlamentarier denken „lass sie reden. Sie hat keine Waffen, sie kann niemanden umbringen. Sie wird das Land nicht verlassen. Man muss sie nicht für voll nehmen.“ Wir müssen ihnen pausenlos das Leben schwer machen, damit sie uns überhaupt anhören. Mit diesen Männern in Wettbewerb zu treten, ist eine große Herausforderung. Ich habe mich mit meinen Sozialprojekten durchgesetzt, habe meine internationalen Kontakte genutzt. Bei den letzten Wahlen haben mich zwar die Ehemänner noch nicht gewählt, aber deren Frauen, weil es nun mehr Straßen gibt, Krankenhäuser und andere lebensnotwendige Sachen, kleine Veränderungen. Ich verspreche nichts, was ich nicht auch umsetze. Ich sorge dafür, dass die Menschen mindestens eine Mahlzeit am Tag bekommen. Die Menschen vertrauen mir. Mehr und mehr hören mir nun auch die Männer zu und wählen mich sogar.

Liegt das auch daran, dass man das alte System für korrupt hält?

Kufi: Natürlich. Die Bevölkerung weiß, dass die männlichen Politiker in Afghanistan viel Unheil angerichtet haben, Krieg, Zerstörung. Sie sucht nach etwas Neuem. Darauf hoffe ich.

Fausia Kufi: Nur eine Tochter, a. d. Engl. von Anne Emmert, Kailash Verlag, 352 S., 19,99 Euro